Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)
Amüsante, wenn es gut erfunden ist, mitunter lieber zu mögen als das Richtige, wenn es langweilig ist, war hier bestens bedient worden. Aber nach einem Jahr hat es auch gereicht. Mir ist klar geworden, dass hier eine Kommunikation heranwächst, die in Struktur und Ethik nichts mehr mit dem zu tun hat, was unsere Journalistenschulen lehren und was wir nach wie vor als Qualitätsjournalismus verteidigen. Der schon einmal zitierte Satz von Martin Walser: »Die Medien dürfen alles und müssen nichts, keine Macht ist so illegitim wie die der Medien«, dieser Satz mag für alle Medien ein wenig gelten, im Netz trifft er uneingeschränkt zu.
Ein Paradebeispiel für diese durch nichts kontrollierte Netzmacht war der Umgang mit Joachim Gauck an den Tagen nach seiner Nominierung für das Amt des Bundespräsidenten. Vorher ließ man ihn relativ ungeschoren, er war zwei Jahre zuvor ja der Kandidat von SPD und Grünen gewesen, also irgendwie dem eigenen Lager nahestehend. Aber jetzt. In wenigen Stunden wurde das »notmypresident«, das eigentlich auf Wulff gemünzt war, gegen Gauck gedreht. Von einigen Leitwölfen angeführt, wurde er im Internet zum Antidemokraten, Sarrazin-Freund, Occupy-Gegner und Befürworter der Datenspeicherung ausgerufen. Dass die Äußerungen Gaucks, auf die man sich jetzt bezog, sehr viel differenzierter waren und diese pauschalen Verurteilungen keinesfalls rechtfertigten, spielte keine Rolle. Dass die große Mehrheit der Deutschen ihn als Präsidenten wollte, auch nicht. Hier wurde die »illegitime Macht« in Tsunamiform eingesetzt. Chancen zur Gegenwehr für den Betroffenen: so gut wie keine. »Sie benehmen sich wie die Taliban«, hat ein Gauck-Verteidiger leicht übertrieben formuliert. Dieser journalistischen Parallelwelt, in der Kompetenz, Fairness, Gründlichkeit und Sachkunde zurücktreten hinter Spontaneität, Schnelligkeit, Emotionalität und Frechheit, Widerstand zu leisten und diesen Wellen etwas entgegenzusetzen scheint mir in Zukunft eine wachsende Herausforderung für den öffentlichrechtlichen Rundfunk zu werden.
»Dein Leib ist abgebrauchet«
Das Altern ist ein fortschreitender, nicht umkehrbarer biologischer Prozess, der mit dem Tod endet. So prosaisch klingt es bei Wikipedia. Der Barockdichter sagt es schöner: »Das Grausen schleicht herbei, dein Leib ist abgebrauchet.«Und Martin Walser meinte einmal im selben Sinn in einem Interview, die »beschissenste Erfahrung«, die er in seinem Leben gemacht habe, sei das Altwerden. Ich habe solche Sätze gelegentlich in Geburtstagsansprachen verwendet, um dann darauf hinzuweisen, wie jung und rüstig der Jubilar doch noch sei und wie viele gute Jahre er noch vor sich habe. Wirklich bedeutet hat mir die Thematik nie etwas. Gut, manchmal hat man damit kokettiert, dass man als älterer Herr dies und jenes nicht mehr tue oder könne, aber das war eitles unernstes Gerede, und der Protest, den man erwartete, kam auch prompt. Bis ich, sagen wir, fünfundsechzig wurde. Da spürt man plötzlich einen Schatten. Man merkt, dass man da und dort nicht mehr so richtig dazugehört, dass dies und jenes nicht mehr ganz so gut geht wie bisher, dass das Gedächtnis schwächer wird und die Auffassung langsamer und dass nach den kokettierenden Hinweisen auf das Alter der Einspruch manchmal ausbleibt. Am Anfang ist das noch kaum spürbar, deutet sich nur an und lässt sich leicht wegwischen. Dann kommt es öfters und verdichtet sich immer mehr zu handfesten Erlebnissen. Als ich die ersten Jahre in Mittweida Vorlesungen hielt, hatte ich immer das Gefühl, irgendwie dazuzugehören. Die Welt der Studenten, okay, es war nicht mehr meine Welt, aber ich verstand sie noch, ich beherrschte den Sound, ich konnte nach der Vorlesung beim Bier kumpelhaft tun und die Studentinnen anlachen. Bis ich vor zwei oder drei Jahren nach den Sommerferien ein Damaskus-Erlebnis hatte. Ich stand wieder im Lehrsaal, redete – und merkte plötzlich, mein Gott, das sind ja Kinder! Das ist nicht die nächste, sondern die übernächste Generation. Mit denen habe ich nichts, aber auch gar nichts mehr gemeinsam, die behandeln mich mit Respekt. Ehrfurcht vor dem Alter, so eine Scheiße, das hatte mir gerade noch gefehlt! Oder einmal nach einer Filmpremiere. KatharinaWackernagel, die eine Hauptrolle gespielt hatte, trat zu unserer Runde. Ich gab den netten Herrn und sagte zu ihr: »Ach, Ihre Mutter hat beim Bayerischen Rundfunk öfters einmal Sendungen für mich gesprochen.« Sie lächelte und
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