Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)
moderierte, ebenfalls mit russischen Einsprengseln, und ich sprach ein Grußwort, mangels DDR-Ausbildung leider ohne russische Elemente. Wir wurden mit großer Herzlichkeit aufgenommen, die Leute drückten uns die Hände und umarmten uns, es war ein gelungenes Zeichen der Versöhnung an diesem Brennpunkt deutsch-russischer Geschichte.
Der damalige russische Botschafter in Deutschland, Wladimir Kotenew, der uns zu diesem Konzert begleitet hatte, lud am Tag darauf einige Leute aus unserer Truppe zu einem ganz besonderen Ausflug ein. Ein echter russischer Erdgas-Oligarch, mit dem Kotenew befreundet war, hatte in der Nähe von Königsberg ein altes ostpreußisches Rittergut gekauft und renoviert und »würde sich freuen, die deutsche Reisegesellschaft zu einem Essen und einem geselligen Nachmittag zu empfangen«. Das Ereignis war faktisch und emotional ungewöhnlich. Schon die stundenlange Fahrt durch die verschneite einsame ostpreußische Landschaft war eindrucksvoll. Dann das Rittergut. Es sah aus, wie man es sich aus Erzählungen oder Bildern vorstellte. Weite Felder, Waldstücke, zugefrorene Teiche, ein Fluss und das Gutshaus selbst am Ende einer Allee, in der Anmutung irgendwo zwischen Landhaus und Schloss, herrschaftlich, aber nicht protzig, innen und außen stilsicher renoviert. Wir zogen durch das Gelände (das »zogen« ist bei mir mit dem Rollstuhl auf den winterlichen Wegen ziemlich wörtlich zu nehmen), in einer Waldhütte waren Batterien von Wodkagläsern und Fischhappen vorbereitet, der Gastgeber war ein sympathischer, weltgewandter Mann, mit dem wir in Englisch einen einigermaßen kultivierten Smalltalk zustande brachten. Dann in einer großen Reithalle das Essen mit jeder Menge an russischen Spezialitäten und wieder viel Wodka. Jetzt ging die Unterhaltung über Smalltalk hinaus. Der Oligarch, der nun seine Familie um sich versammelt hatte, erzählte, wie er zu seinem Reichtum gekommen war, vom armen sibirischen Erdgastechniker zum Milliardär, wie er seinen Konzern aufgebaut hatte und führte, welche politischen Verpflichtungen der Reichtum mit sich brachte – eine spannende Lektion in russischer Gegenwartsgeschichte. Später im Gutshaus zeigt er uns das Gästebuch: Er hatte stolz und taktlos die ehemaligen deutschen Besitzer, die 1945 von der Roten Armee vertrieben wurden, eingeladen. Sie waren tatsächlich gekommen und hatten einen längeren Text in das Gästebuch geschrieben. Ein Text, der mich eigenartig berührt hat. Natürlich versöhnlich, Völkerfreundschaft, nie wieder Krieg und dergleichen, aber die Schwierigkeit, die neuen Besitzverhältnisse anzuerkennen, war zwischen den Zeilen deutlich zu spüren. Ich konnte das nachvollziehen. Es war schon gewöhnungsbedürftig, einen neureichen sibirischen Milliardär als Herrn auf einem alten ostpreußischen Rittergut zu erleben.
Ein weiterer Programmschwerpunkt waren 2010 diezwanzig Jahre deutsche Einheit. Da der MDR selbst ein Kind der Wiedervereinigung war, haben wir dieses Ereignis natürlich besonders gefeiert. Es begann mit einem »Gipfeltreffen Ost«, das wir zusammen mit allen früheren Ministerpräsidenten der neuen Länder im Gebäude des Bundesrats in Berlin organisierten, um eine Bilanz der deutschen Einheit zu ziehen. Das war eines von fast siebzig Programmangeboten in Fernsehen, Hörfunk und online. Nur ein paar Beispiele: Es gab eine vierteilige Fernsehdokumentation »Damals nach der DDR«, die der MDR mit dem RBB für das Erste produziert hat. In dieser Reihe beleuchteten wir die Monate nach dem Mauerfall. Normalerweise endeten die Einheitsgeschichten ja mit dem Fall der Mauer. Das war das Happy End, danach wird ja nach Tucholsky meistens »abjegeblendt«. Dabei sind die Geschichten nach 1990 mindestens genauso spannend. Das wollten wir zeigen. Aus vielen Biographien, Hintergründen und Fakten entstand hier ein Stück eindrucksvoller aktueller Zeitgeschichte. Vervollständigt wurde das Projekt durch eine DVD, ein Begleitbuch, ein Radiofeature und ein Hörbuch. Das Goethe-Institut hat der Dokumentation ein weltweites Publikum verschafft. Fast 200 Vertretungen in allen Erdteilen haben die DVD vorgeführt. Auch mehrere Journalistengruppen aus dem Ausland waren in diesen Wochen bei uns zu Gast, um sich »vor Ort« über die Entwicklung seit 1990 zu informieren.
Schließlich gab es noch einen dritten Schwerpunkt im Programmjahr 2010: Erstmals war der MDR für die Übertragung der Olympischen Winterspiele verantwortlich. Wir hatten die
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