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Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)

Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)

Titel: Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Reiter
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Kindheit war mir der Tod als etwas Unheimliches, Beängstigendes in Erinnerung. Die Aeschacher Oma war die erste Tote, die ich gesehen habe. Danach wollte ich tagelang nicht allein ins Bett und zog mir voller Angst die Bettdecke über den Kopf. Das Leichenhaus auf dem Reutiner Friedhof spielt in meiner Erinnerung ebenfalls eine Rolle. Dort waren damals die Leichen mitunter im offenen Sarg ausgestellt. Und wenn meine Mutter auf dem Friedhof das Familiengrab richtete und ich sie begleiten musste, habe ich mich in einer Mischung aus Faszination und Grauen dorthin geschlichen und geschaut, ob einer drinlag. Meine Mutter war weniger feinfühlig. Als der Reutiner Opa starb, ohne dass wir uns noch von ihm verabschieden konnten, ging sie mit mir in das besagte Leichenhaus. Es war ein warmer Sommertag. Der Opa lag in einem verschlossenen Sarg, und meine Mutter scheute sich nicht, den Sarg eigenhändig aufzuschrauben, um mir den Opa ein letztes Mal zu zeigen. Als sie den Sargdeckel auf der einen Seite leicht anhob, kam eine furchtbare Wolke heraus, die mir fast die Luft nahm. Zum Glück kam in diesem Augenblick die diensthabende Leichenfrau herein und sah, was meine Mutter vorhatte. Sie hat sie entsetzt angeschaut und ziemlich lautstark gefragt, ob sie wisse, was sie da tue, wie ein Toter nach einer Woche im Hochsommer aussehe und rieche. Ich bin der Frau heute noch dankbar, dass sie damals rechtzeitig erschienen ist.
    Seitdem hat mich das Thema immer wieder bewegt. Zusammen mit Dagmar Reim vom RBB hatte ich im Jahr zuvor eine entsprechende Themenwoche für die ARD angeregt. »Wie wir sterben wollen«, hatte ich als Titel vorgeschlagen, »Leben mit dem Tod« ist schließlich daraus geworden. Der Widerstand bei Kollegen und Gremien war beträchtlich. Darüber spricht man nicht, damit vertreibt man die jungen Leute, das ist kein Thema fürs Fernsehen und so weiter. Das Bedürfnis nach Verdrängung war unüberhörbar. Dabei ist es ein Thema, das nicht nur jeden von uns eines Tages persönlich betreffen wird, es ist auch ein Thema, das durch die Fortschritte der Medizin und die zunehmende Überalterung unserer Bevölkerung immer relevanter wird.
    Mir als interessiertem Laien stellt sich heute vor allem eine Frage: Woher nehmen Politiker, Kleriker und Medizinfunktionäre das Recht, über meinen Tod zu entscheiden? Das Recht auf Selbstbestimmung ist die Grundlage unserer Verfassung. Für alle Lebensbereiche wird es eingefordert. Nur das Recht auf den eigenen Tod will man uns nicht einräumen. Hier wird theologisch argumentiert und psychiatrisch, hier werden alle möglichen medizinischen und juristischen Gesichtspunkte bemüht, die mein Selbstbestimmungsrecht in diesem speziellen Fall angeblich außer Kraft setzen. Als Gunter Sachs seinem langen und schönen Leben im hohen Alter aus Angst vor drohender Debilität mit einem Schuss ein Ende setzte, erklärte irgendein aufgeblasener Psychiatrieprofessor im Fernsehen, dass Sachs wegen einer offensichtlichen depressiven Verstimmung nicht mehr im Stande gewesen sei, eine selbständige Entscheidung zu treffen, und man ihn vor sich selbst hätte in Schutz nehmen müssen. Das hat mich empört. Selbst wenn ich eine Depression habe, es ist meine, und sie geht den Professor gar nichts an. Es kann nicht sein, dass andere bestimmen dürfen, wann wir über uns entscheiden können und wann nicht. Das ist das Ende der Idee der Selbstbestimmung, der Anfang des totalitären Betreuungsstaats. Und wenn es eine »Fehlentscheidung« ist, die ich treffe, dann ist es meine Fehlentscheidung. Es ist die Konsequenz der Freiheit, auch Fehlentscheidungen treffen zu können. Und es gehört zu einer freien Gesellschaft, sein Lebensende selbst festsetzen zu können.
    Ich habe trotz Rollstuhl ein schönes und selbstbestimmtes Leben geführt. Ich möchte nicht als Pflegefall enden, der von anderen gewaschen, frisiert und abgeputzt wird. Ich möchte mir nicht den Nahrungsersatz mit Kanülen oben einfüllen und die Exkremente mit Gummihandschuhen unten wieder herausholen lassen. Ich möchte nicht allmählich vertrotteln und als freundlicher oder bösartiger Idiot vor mich hin dämmern. Und ich möchte ganz allein entscheiden, wann es so weit ist und ich nicht mehr will. Ohne Bevormundung durch einen Kardinal, einen Ärztepräsidenten oder einen Bundestagsabgeordneten. Und wenn ich das entschieden habe, möchte ich mich ungern vor einen Zug rollen oder mir, wie das verschiedentlich empfohlen wird, eine Plastiktüte über

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