Gestern fängt das Leben an
mich.»
19
Heute im Büro habe ich bereits mindestens elfmal zum Telefonhörer gegriffen, um meine Mutter anzurufen. Aber ich schaffe es nicht, die Nummer zu wählen. Ich weiß einfach nicht, was ich sagen soll. Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich sie überhaupt anrufen will.
Wahrscheinlich hat es etwas mit Katie zu tun.
Inzwischen träume ich fast jede Nacht von ihr. Manchmal suche ich sie tagsüber in vorbeifahrenden Kinderwagen, denn ich vermisse sie so sehr und fühle mich ohne sie wie ein verwundetes Tier. Ich frage mich, ob sie mir verzeihen kann. Und wenn ich dann an den festen Griff denke, mit dem meine Mutter mich an jenem Sommertag im Garten umarmte, dann ist es fast unmöglich, nicht weichzuwerden.
Aber jetzt, mit dem Hörer am Ohr und ihrem Brief vor mir auf dem Tisch, habe ich scheinbar nichts zu sagen. Wie fange ich an? Nenne ich sie «Mom»? Was würde ich sie als Erstes fragen? Wo sie die ganze Zeit gewesen ist?
Die Fragen fühlen sich schwer an, unbezwingbar, und ich muss mit Erschrecken feststellen, dass ich nie besonders viel Rückgrat besessen habe.
Ich hole tief Luft. Mit angehaltenem Atem, als würde ich den Kopf in eisiges Wasser tauchen, will ich gerade die Nummer wählen, als Josie hereinkommt. Schnell lege ich auf, dankbar für eine Ausrede, die nicht auf meinem eigenen Mist gewachsen ist.
«Jillian? Ich überlege, ob ich mit Bart ins Bett gehen soll», sagt sie so schnell, dass der Satz klingt wie ein einziges, zusammenhängendes Wort.
«Was? Das kannst du nicht tun! Josie!»
«Das kann ich sehr wohl», sagt sie, setzt sich und schlägt lässig die Beine übereinander. Man könnte meinen, wir würden erörtern, ob es zum Mittagessen lieber Pute oder Thunfisch im Salat geben soll. «Und ich glaube, ich werde es tatsächlich tun.»
Mir ist aufgefallen, dass ihre Haare wieder sorgfältiger gesträhnt sind und ihre Haut makellos wirkt. Auch die Ringe unter den Augen sind verschwunden. Ob es nur an dem neuen Make-up liegt oder an der Aussicht auf ein Treffen mit Bart. Sie sieht frischer und glücklicher aus als sonst.
«Hör mal, Josie, das kannst du nicht tun. Du bist doch glücklich mit Art.»
«Bin ich nicht», sagt sie achselzuckend.
Doch, bist du
!
, denke ich und würde ihr das am liebsten entgegenschreien.
In sieben Jahren wirst du mit Art noch glücklich sein, verdammt nochmal!
«Also … Vielleicht kommt dir das jetzt so vor», stammle ich. «Aber mit etwas Abstand betrachtet, vergeht das wieder.» Sie sieht mich mit ausdrucklosem Gesicht an. Ich versuche es mit etwas Überzeugenderem: «Ich habe gerade eine Studie gelesen, die besagt, dass fast zweiundachtzig Prozent der Paare, die eine Ehekrise überstanden haben, fünf Jahre danach wieder glücklich sind.»
Josie verlagert ihr Gewicht. «So kommt es mir aber nicht vor. Bei uns ändert sich nie was. Art will nach San José ziehen und …» Sie stockt mitten im Satz und hebt hilflos die Hände.
«Ich verstehe dich.»
«Das ist lieb von dir, Jill, wirklich. Aber du bist noch nicht mal verheiratet. Ich meine das nicht böse, aber … Also, eine Ehe ist eine ziemlich harte Nuss. Und manche Dinge … Na ja, manchmal lebt man sich eben auseinander.»
Wenn du wüsstest, wie gut ich dich verstehe! ,
denke ich.
Ich weiß ganz genau, wovon du sprichst!
Ich räuspere mich. «Und du glaubst, wenn du mit Bart ins Bett gehst, wird alles besser.»
«Vielleicht.» Sie zuckt wieder mit den Achseln, aber sie klingt selbst nicht ganz überzeugt.
«Na, das stimmt ja vielleicht auch», stimme ich ihr zu. «Aber vielleicht auch nicht, weißt du? Vielleicht ist deine Beziehung zu Bart irgendwann genauso verfahren wie deine Ehe.»
«Du meinst also auch, dass meine Ehe verfahren ist?» Josie seufzt. «Eigentlich sollte ich einer frisch Verlobten all diese Dinge gar nicht erzählen. Ich hoffe, ich raube dir jetzt nicht deine Illusionen.»
«Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich weiß, worauf ich mich einlasse.» Ich lehne mich zurück und massiere mir die Nackenmuskeln.
«Das ist es ja gerade», sagt Josie. «Du
glaubst
zu wissen, worauf du dich einlässt. Ich meine, du sagst dir, dass es natürlich nicht jeden Tag nur Rotwein und Rosen geben kann. Aber dann wachst du eines Tages auf, und dein geliebter Ehemann hat sich in jemanden verwandelt, den du kaum noch wiedererkennst. Und du sitzt da und starrst ihn an, während er in Unterwäsche am Küchentisch sitzt und sich am Hintern kratzt, und du fragst dich: Das hier habe
Weitere Kostenlose Bücher