Gestern fängt das Leben an
von der Wange. Es soll nicht so aussehen, als würde ich weinen, sondern eher, als hätte ich etwas im Auge.
«Das heißt aber nicht, dass ich dich nicht geliebt hätte», fährt meine Mutter bestimmt fort. «Dich oder Andy. Ich war einfach nur zu jung … Und ich wusste nicht … Ichwusste nicht, wie ich damit umgehen soll. Dein Vater und ich haben mit zwanzig geheiratet. Und …» Sie räuspert sich. «Als ich gegangen bin, war ich noch nicht mal dreißig. Aber ich hatte die Vorstellung, da draußen müsste es noch so viel mehr geben, so viel mehr, als nur Hausfrau und Mutter zu sein.» Sie ringt nach Worten und verstummt. Dann richtet sie sich auf und setzt neu an. «Das klingt alles völlig falsch. Ich hatte mich so sehr auf dieses Gespräch vorbereitet, aber jetzt klingt alles ganz anders, als ich es eigentlich sagen wollte.»
Ich weiß nicht, was ich sagen soll, und sehe sie einfach nur ruhig an.
«Du kannst es sehen, wie du willst, aber meine Liebe zu dir und zu deinem Bruder … hat nie geschwankt. Ich habe euch jeden einzelnen Tag meines Lebens vermisst. Ich wusste nur einfach nicht, wie ich die beiden Dinge unter einen Hut bringen sollte: meine Liebe zu euch und das Bedürfnis, mich von meinen Fesseln zu befreien.» Sie zuckt die Achseln, aber die Geste hat nichts Leichtes an sich. «Ich war jung. Das ist keine Entschuldigung. Aber ich wusste einfach nicht, was ich sonst tun sollte.»
Das erste Mal, als ich Katie nach einer schmerzvollen Geburt in meinen Armen hielt, war ich so erledigt und erschlagen, dass ich nichts mehr fühlte. Mein Körper war taub. Man legte mir dieses fremde, verquollene, blutverschmierte Wesen auf die Brust und sagte: «Sie sind jetzt glückliche Mama!» Aber die Geburt hatte nichts mit den glorifizierenden Artikeln darüber gemein, die ich gelesen hatte. Nach einer letzten Presswehe, von der ich glaubte, ich würde sie nicht überstehen, spürte ich endlich, wie ihr Kopf und dann ihre Schultern und Beine ihren Weg hinausfanden. Aber anstatt in einer überbordenden Welle aus Liebe zu vergehen, spürte ich gar nichts. Henry, der mit Freudentränen in den Augen seine Videokamera hielt, sagte ich nichts davon. Um ehrlich zu sein, erzählte ich niemandem auch nur ein Sterbenswörtchen davon. Auch Ainsley nicht, die noch in den letzten Ausläufern ihrer postnatalen Depression schlingerte und mich vielleicht verstanden hätte. Und erst recht nichts sagte ich zu meiner neuen Müttergruppe, deren Lebensentwürfe nach außen hin genauso glänzten wie ihre teuren Kinderwagen.
Trotzdem hielt ich Katie unter dem grellen Neonlicht des Kreißsaals im Arm und lächelte. Ich sah sie an und wartete darauf, dass eine emotionale Flut des Glücks mich überschwemmte. Aber sie kam nicht.
Als die Kinderschwestern schließlich kamen und Katie mitnahmen, um sie zu baden, war ich erleichtert. Aber auch nachdem wir sie nach Hause gebracht hatten, wartete ich weiter. Gierig saugte sie an meiner Brust, ich wiegte sie in den Schlaf und sang für sie, wenn sie erwachte. Und ich wartete weiter, wartete noch immer auf die Flutwelle, die überall als bedingungslose Mutterliebe beschrieben wird.
Henry, der vernunftbetonteste, rationalste Mensch, den ich kenne, war vom ersten Moment an verliebt. Und ich, das Abbild mütterlicher Perfektion, stand immer noch da mit einer Leere, wo meine mütterliche Hingabe hätte sein sollen.
Dann, eines Tages, als Katie sechs Wochen alt war, hörte ich, wie sie sich in ihrer Wiege bewegte. Ich ging zu ihr, um die tägliche Routine zu beginnen: Wickeln, Stillen, Bäuerchen, Singen, Wickeln, Schlafen … Katie starrte ihr rosageblümtes Nestchen an und muss sich dermaßen übermein Gesicht erschrocken haben, dass sie lautstark anfing zu weinen. Bei dem Geräusch zog sich alles in mir zusammen. Erneut streckte ich den Kopf über den Rand der Wiege, und diesmal sahen wir uns an.
Sie erkennt mich!,
dachte ich, als sie sich sofort beruhigte, und ich meine, auf ihren winzigen, herzförmigen Lippen den Anflug eines Lächelns gesehen zu haben. Da fühlte ich es: Da fühlte ich diesen Rausch, von dem Mütter sagen, er sei unbeschreiblich. Dieses nagende, ziehende Gefühl von grenzenloser Liebe.
Von diesem Moment an schwang dieses Gefühl immer mit wie das Pendel einer großen, alten Standuhr – auch wenn die Schwingungen im lauten Alltag manchmal untergingen und ich mir die Ohren zuhalten musste, um zu lauschen, ob sie noch da waren. Und stets gaben sie den Rhythmus
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