Gestern fängt das Leben an
wirklich brauche?
Ich kicke eine Levi’s Jeans zur Seite, die ich an meinem dreiundzwanzigsten Geburtstag zum letzten Mal getragen habe, und gehe in die Hocke. Stapelweise Rollkragenpullover aus Merinowolle kommen zum Vorschein, modrig vom jahrelangen Nichtgebrauch; ebenso ein Jahrbuch aus der Highschool mit gewellten Seiten von dem Wasserschaden in der Wohnung über uns; verschiedenfarbige Pashminaschals aus Chinatown – sie erinnern an eine Zeit, als ein Schal in jeder Farbe nicht genug war; und stoße auf Mix-Kassetten mit Musik von Freunden, an deren Nachnamen ich mich kaum noch erinnern kann.
Und dann fällt mir zwischen den Seiten eines alten Telefonbuchs (
wieso habe ich Telefonbücher aufgehoben? )
die Ecke eines Fotos ins Auge. Ich sehe genauer hin und stocke. Ich bin mir zunächst nicht ganz sicher, aber es ist unverkennbar, wer auf dem Bild ist. Ein Adrenalinschock durchfährt mich.
Es ist ein Foto meiner Mutter.
Mit zittrigen Fingern ziehe ich die Aufnahme zwischen den staubigen Seiten heraus und sinke, fasziniert und bestürzt zugleich, zu Boden.
Es ist ein Schwarzweißfoto, das ich von meinem väterlichen Zuhause mit ins Wohnheim, dann von Wohnheim zu Wohnheim und später von Wohnung zu Wohnung mitgenommen habe. Denn auch wenn ich jede Erinnerung an meine Mutter, jedes Bild von ihr vergessen wollte, war ich trotzdem nicht in der Lage, sie ganz aus meinem Bewusstsein zu löschen. Und so hatte ich stets ein Bild behalten, so wie ein geheilter Fettsüchtiger vielleicht das eine Stück Schokolade behält. Man weiß, es ist immer da, für den Fall, dass man es braucht.
Langsam kommt die Erinnerung wieder: Als Jack und ich uns in meinem alten Leben trennten, war ich ausgezogen und beim Packen über das Foto meiner Mutter gestolpert. Ich war noch immer wütend über ihren Brief und die ungebetene Rückkehr in mein Leben. Deshalb warf ich das Bild zusammen mit ihrem Brief in den Müll. Damals dachte ich, es sei für immer weg und damit endlich vergessen. Aber jetzt ist das Foto wieder da. Ich komme mir vor wie in dem Film
Und täglich grüßt das Murmeltier
– nur für emotional Verdorrte.
Die Aufnahme stammt aus jenem Sommer, als meine Mutter und ich bei Dämmerung durch den Garten rannten, um Glühwürmchen zu fangen. Wir stehen im Garten, in ihrem Heiligtum, wie sie ihn immer nannte. Ich erinnere mich an ihren erdigen Duft. Auch nach dem Duschen und nachdem sie sich großzügig mit
Charlie
Bodylotion eingecremt hatte, roch meine Mutter immer ganz leicht nach Erde. Und noch heute muss ich an sie denken, sobald mir irgendwo der Geruch feuchter Erde in die Nase steigt. Auf dem Foto stehen wir mitten in den Tomatenstauden, am Boden sieht man ordentlich in Reihe gepflanztes Basilikum und grüne Bohnen. Meine Mutter hat ein Tuch im Haar und einen winzigen Fleck verschmierte Erde auf der linken Wange. Ihre Arme umschlingen mich von hinten, während ich direkt in die Kamera lächle. Statt in die Linse zu sehen, blickt sie zu mir herunter, ein warmes Lächeln auf dem Gesicht. Fünf Wochen später würde sie gehen.
Nachdenklich betrachte ich das Foto. Auf einmal sehe ich es mit anderen Augen, mit den Augen einer Mutter, und es kommt mir vor, als würde ich es zum ersten Mal sehen.
Früher war ich wie versteinert vor Wut, und dieses Bilddiente mir immer als sichtbarer Beweis für ihren Betrug: Denn zum Zeitpunkt der Aufnahme war sie offensichtlich in der Lage, so zu tun, als würde sie mich lieben. Doch nachdem sie sich aus der Umarmung gelöst hatte, konnte sie sich umdrehen und mich im Stich lassen.
Aber jetzt kann ich viel mehr in der Aufnahme sehen: Vielleicht täuschte sie damals in ihrem Garten die Liebe gar nicht vor; vielleicht klammerte sie sich vielmehr an mir fest wie an einer Rettungsboje, so als wäre ich das Einzige, was sie vor dem Ertrinken bewahren könnte.
Ich starre das Bild an und kann nicht fassen, dass mir das vorher nie aufgefallen ist.
Jack steckt den Kopf zur Tür herein und weckt mich aus meiner Trance.
«Bist du so weit?»
«Hier. Ein Bild von meiner Mutter», sage ich tonlos und strecke es ihm entgegen.
Er tritt näher, nimmt das Foto an sich und betrachtet es irritiert. «O Gott, du siehst aus wie sie.»
Ich zucke die Achseln, dann nehme ich das Foto und stecke es in meine Sockenschublade. Das Chaos lasse ich hinter mir – sowohl das sprichwörtliche als auch das emotionale.
Jack scheucht mich zur Wohnungstür. «Jetzt zeig ich dir die Überraschung, Mylady!»
Ich
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