Gestern fängt das Leben an
Stück nicht genau einordnen.
Die Mittagsgäste sitzen bereits an ihren reservierten Plätzen. Da ich meine Mutter nicht sofort entdecke, muss ich jeden einzelnen Tisch absuchen. Vor Nervosität dreht sich mir der Magen um. Einerseits hoffe ich, dass sie nicht gekommen ist, andererseits bete ich, dass sie mich nicht schon wieder im Stich lässt.
Mein Blick geht suchend von Tisch zu Tisch, von Nische zu Nische, und dann sehe ich aus den Augenwinkeln jemanden winken. Ich drehe mich zur Seite, und da ist sie.
Obwohl es zwanzig Jahre her ist und obwohl ich der festen Überzeugung war, sie völlig aus meiner Erinnerung gelöscht zu haben, erkenne ich sie sofort wieder. Ich hätte sie überall erkannt. Ihre schwarzen Haare fließen über die Schultern, das Gesicht ist faltenfrei und sanft gebräunt. Trotz der angespannten Situation wirkt sie ruhiger als in meiner Erinnerung, so, als wäre sie im Laufe der Jahre sanfter geworden.
Mein erster Impuls ist zu fliehen. Mein Fuß rotiert, und ich spüre, wie meine Beine sich um die eigene Achse drehen. Mein Innerstes befiehlt mir, mich in Sicherheit zu bringen, einfach abzuhauen, egal in welche Richtung, nur weg von meiner Mutter. Doch ich zwinge mich, stehen zu bleiben.
Nein, das hatten wir schon mal. Wie die Geschichte endete, wissen wir. Und: Denk an Katie.
Also hole ich tief Luft und setze einen Fuß vor den anderen. Langsam komme ich auf sie zu.
«Jillian», bricht es aus ihr heraus, als sie aufsteht, um mich zu begrüßen.
Wir stehen einander gegenüber und wissen beide nicht, was wir tun sollen. Ich strecke die rechte Hand aus, aber sie zieht mich in eine fast erstickende Umarmung. Ich atme tief ein und warte auf den vertrauten Geruch nach Erde, der Erinnerung, die mich all die Jahre begleitet hat. Aber ich kann nichts Vertrautes entdecken.
«Ich habe mir erlaubt, Tee und ein paar Sandwichs zu bestellen», sagt meine Mutter, als wir uns setzen. Sie wirkt genauso verlegen wie ich. «Du siehst gut aus. Vielen Dank für deinen Anruf.»
Ich nicke, ohne sie anzusehen.
«Ich habe viel zu erklären.» Sie spielt nervös mit der Stoffserviette auf ihrem Platz.
Ich nicke wieder, sage aber immer noch nichts. Ich versuche vor allen Dingen, nicht zu weinen.
«Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll», sagt sie und schüttelt den Kopf. «Es sind so viele Jahre … Da ist so viel … Ich …» Sie hält inne und versucht, sich zu fassen. «Ich sollte vielleicht mit einer Entschuldigung anfangen. Was ich damals getan habe … Ich weiß jetzt, was ich dir und deinem Bruder angetan haben muss. Wieso mir das erst so spät klargeworden ist, erkläre ich dir später.»
«Danke», erwidere ich leise, und im gleichen Augenblick löst sich eine Träne aus meinem linken Auge. Am liebsten würde ich meine ganze Wut und Verbitterung zeigen, aber ich bin erschöpft von dieser Last. Ich bin es leid, die Wut mit mir herumzutragen. Als ich meine Mutter jetzt vor mir sehe, nervös wie eine verängstigte Maus, voller Angst und Reue, kann ich meine Wut plötzlich loslassen. Und diesejahrelang aufgestaute Wut sackt in sich zusammen wie ein Ballon, aus dem plötzlich alle Luft entweicht. Meine Wut hat keinen Auftrieb mehr.
«Es ist alles sehr schwer zu erklären», startet sie einen neuen Versuch, dann verbessert sie sich. «Nein, das stimmt nicht, das ist meine Entschuldigung. Es ist eigentlich gar nicht schwer zu erklären. Ich habe mir immer eingeredet, es wäre kompliziert, damit ich meiner Schuld nicht ins Gesicht sehen muss, aber es ist nicht kompliziert: Ich habe eine schreckliche Entscheidung getroffen. Punkt.» Sie bringt ein Lächeln zustande. «Meine Therapeutin wäre sehr stolz auf mich. Ich übernehme Verantwortung!»
Der Kellner kommt mit zwei Kännchen Tee und einem Tablett mit winzigen Sandwichs an unseren Tisch. Ich nehme mir eins und pule unschlüssig daran herum.
«Was ist passiert?» Ich zwinge mich zu der Frage, obwohl ich gleichzeitig die Antwort fürchte.
Ich bin gegangen, weil du nie dein schreckliches Zimmer aufgeräumt hast!
«Ach, ich … Weißt du, das klingt fürchterlich, und du darfst mich gern dafür hassen und verurteilen … Ich erwarte nichts anderes.» Sie lässt den Blick auf die Hände sinken. «Aber ich war einfach nicht bereit für all das – für die Mutterschaft und die Verpflichtungen, die damit verbunden waren, und für meine Ehe und die Komplikationen, die es zwischen uns gab und …»
Ich wische mir zwei kleine Tränen
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