Gestern fängt das Leben an
heute, heute ist ja Weihnachten.» Mir entweicht ein ziemlich schräges Lachen, das ihm, wenn er mich so gut kennen würde, wie er es mal getan hatte, verraten würde, dass ich mir vor Angst fast in die Hosen mache. «Aber, äh, vielleicht morgen. Morgen bin ich wieder in der Stadt. Also, falls du überhaupt da bist, meine ich. Aber das weiß ich natürlich nicht … Oh, vielleicht bist du ja bei Celeste …» Ich spüre, wie ich rot anlaufe. Es ist mir nicht mal in den Sinn gekommen, dass er bei Celeste sein könnte.
Scheiße!
«Äh, also in dem Fall, ignorier mich einfach. Ja! Am besten, du ignorierst, dass ich angerufen habe! Hahaha … Okay, gut. Also, du hast ja meine Nummer. Oh, vielleicht auch nicht. Oder doch? Sie steht bestimmt im Display. Gut … äh, also … Danke. Ciao.»
Ich werfe den Hörer auf die Gabel und spüre meinen Puls wie eine wildgewordene Gewehrkugel in meiner Kehle pochen. Ich sollte es bereuen. Ich sollte den Wunsch verspüren, die letzten Minuten zurückzuspulen und den Anruf ungeschehen zu machen. Aber erstaunlicherweise ist dem nicht so. Erstaunlicherweise habe ich, auch wenn mir vor Aufregung fast das Herz zerspringt, das erste Mal seit langer Zeit das Gefühl, etwas richtig gemacht zu haben. Weil ich nämlich einem inneren Bedürfnis gefolgt bin.
Ich rolle auf meinem Bett herum und fange albern an zu kichern. Das Lachen steigert sich in ein euphorisches Gelächter, das erst aufhört, als mein Kopfkissen schon ziemlich nass vor Lachtränen ist. Ich lasse mich auf das Bett meiner Kindheit sinken, in meinem alten Zuhause, wo ich so viel verloren habe, und mir wird klar, dass es hier auch etwas zu finden gibt.
***
Auch nach dem Abendessen warte ich vergeblich auf einen Rückruf von Henry.
Ich versuche, mich daran zu erinnern, wo er damals in unserem ersten Jahr die Feiertage verbracht hat. War er bei seinen College-Freunden in Vail? Oder bei seinen Eltern? Die Zeiten haben sich inzwischen völlig vermischt. Jetzt und früher und … Vergangenheit und Gegenwart und Zukunft.
Ich lenke mich ab, indem ich versuche, Megan und Ainsley anzurufen, aber keine von beiden geht ans Telefon. Irgendwie muss ich mich ablenken. Ob ich mich dem Stapel Arbeit zuwenden sollte, den ich mitgeschleppt habe? Aberder Gedanke, sich an einem verschneiten Weihnachtsabend durch Textabzüge zu kämpfen, erscheint mir zu deprimierend.
Andy trifft sich noch mit ein paar alten Freunden. Er kommt mit Sicherheit erst im Morgengrauen wieder und verschläft den ganzen nächsten Tag. Den Anblick, den er bei seiner Rückkehr bieten wird, kann man sich getrost ersparen.
«Jillian? Kommst du?», ruft mein Vater durchs Treppenhaus nach oben. «Wir schauen uns
Ist das Leben nicht schön?
an. Linda hat Popcorn gemacht.»
O Gott, der Weihnachtsfilm mit James Stewart und Donna Reed! Diese unumstößliche Tradition meines Vaters hatte ich völlig vergessen. Jedes Jahr zu Weihnachten setzte er sich mit Andy und mir auf die Couch und breitete eine Kuscheldecke über unsere Beine aus. Gemeinsam sahen wir uns die Geschichte von George Bailey an, der ausgerechnet am Weihnachtsabend sein Leben beenden will, bis er versteht, wie kostbar es eigentlich ist. Andy und ich machten uns irgendwann einen Sport daraus, den Schauspielern die Dialoge vorwegzunehmen.
Und jetzt schließt sich der Kreis: Der Mann, der sein Leben aufgeben will, meine Mutter, die uns verlassen hat, und ich, die ich vor meinem Leben geflohen bin.
Ich hieve mich von meinem Bett, schlüpfe in meine bequeme Pyjamahose und steige langsam die Treppe hinunter. Mein Vater und Linda haben es sich bereits vor dem Fernseher gemütlich gemacht. Die Wohnzimmerwände reflektieren das Licht des flackernden Films auf der Mattscheibe.
Ich setze mich zu ihnen, krieche unter die Decke undwerfe mir Popcorn in den Mund. Doch anstatt mich auf den Film einzulassen, denke ich darüber nach, wie ich hierhergekommen bin. Also, wörtlich gemeint, wie ich sieben Jahre zurück in meine eigene Vergangenheit gekommen bin. Und mir wird klar, dass ich hier bin, weil ich vor meinen eigenen Entscheidungen davongelaufen bin, dass ich bereitwillig den Pfad meines Lebens verlassen habe, den ich mir doch selbst ausgesucht hatte.
Es scheint so leicht, einfach alles aufzugeben
, denke ich, als der Schutzengel der Hauptfigur vom Himmel steigt, um ihn vor sich selbst zu retten.
Es wirkt so verdammt leicht, einfach alles hinzuschmeißen und sich nicht um die Folgen zu kümmern.
Aber
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