Gestern fängt das Leben an
dann muss ich an Katie denken, an unser erstes gemeinsames Weihnachten. Mit unsicheren Beinchen torkelte sie durchs Haus, fest entschlossen, die ersten Schritte alleine zu tun, obwohl sie dazu noch gar nicht wirklich in der Lage war. Ich beobachtete sie und dachte, wie mutig sie war. Nach jedem neuen Sturz stand sie wieder auf, lachte und versuchte es nochmal.
Und jetzt verfolge ich das Schicksal des armen James Stewart als George Bailey und erkenne, dass Katie es die ganze Zeit lang genau richtig gemacht hat: Sie war nicht mal besonders mutig, sie ging einfach nur weiter. Stolperte und stand wieder auf. Sie fiel hin, ohne den Mut zu verlieren.
Wieso habe ich als ihre Mutter das nicht erkannt? Wieso bin ich davongerannt? Wieso ist mir eigentlich nie in den Sinn gekommen, denke ich jetzt, meinen Vater im Halbschlaf an meiner Seite und eine leere Schüssel Popcorn auf dem Tisch, dass Katie vielleicht von Anfang an mein Schutzengel war?
24
Zwei Tage nach Weihnachten hat Henry immer noch nicht zurückgerufen.
Ich versuche, nicht darüber nachzudenken, was das bedeutet. Stattdessen sitze ich wieder an meinem Schreibtisch und tue so, als ob ich arbeite, obwohl ich zu nichts Lust habe.
Wieso klingelt das verdammte Telefon nicht endlich?
Dieses Jahr ist zwischen den Jahren absolut tote Hose. Nur wenige Kollegen sind außer Josie und mir im Büro. Jack ist mit seiner Familie in Antigua, eine Reise, die ich schon Monate vor unserer Verlobung dankend ausgeschlagen hatte. Zu Hause war es so still, dass ich nur ins Grübeln kam, also bin ich in Ermangelung an Alternativen in die Agentur zurückgekehrt.
Mittlerweile habe ich mich durch sämtliche Online-Schlussverkaufsangebote geklickt, das Wetter sowohl in Vail als auch in Antigua gecheckt und meiner Hochzeitsliste ein paar Stielgläser hinzugefügt. Auf einer der Seiten taucht ein albernes Werbebanner mit einer ungewöhnlich attraktiven Braut und ihrer scheinbar alterslos jungen Mutter auf. Die elegante Dame ruft Erinnerungen an meine eigene Mutter wach.
Ob ich zu den Friedensverhandlungen zur Abwechslung mal etwas Richtiges beitragen sollte? Vielleicht bin ich tatsächlich die Einzige, die das Päckchen, das ich trage, ablegen kann.
Vielleicht
, denke ich
, hat Henry mit seiner
Beharrlichkeit, eine Aussöhnung zu bewirken, genau darauf abgezielt. Nur dass ich das nicht erkannt habe und deswegen alles, was er sagte, grundsätzlich in den falschen Hals bekommen habe. Vielleicht hat er immer in der besten Absicht gehandelt …
Ich gebe der Bürotür einen Stups, lausche, wie sie ins Schloss fällt, und krame in der obersten Schublade, bis ich Füller und einen Block Schreibpapier gefunden habe. Mag sein, dass es mir nicht gelingt, alles auf einmal ins Reine zu bringen. Aber ich will es zumindest versuchen.
Liebe Mama,
es tut mir leid, dass ich letzte Woche nicht zu unserem Treffen erschienen bin. Ich hätte einfach nichts versprechen dürfen, was ich nicht einhalten kann. Aber ich verstehe langsam, weshalb du mich jetzt nach all den Jahren kennenlernen möchtest. Und du sollst wissen, dass es in mir einen Teil gibt, der für diesen Wunsch dankbar ist. Aber es gibt auch einen Teil von mir, dem das alles zu viel ist und dem das alles zu schnell geht.
Ich möchte dir verzeihen, das möchte ich wirklich. Inzwischen bin ich sogar bereit dazu. Aber es handelt sich hier um keine Tafel, die man mit einem Schwamm einfach reinwischen kann. Tag für Tag werde ich an das erinnert, was du mir angetan hast. Inzwischen ist mir klar, dass so gut wie alles, was mich heute ausmacht, durch dein plötzliches Verschwinden definiert wurde. Ich habe stets mit dem Glauben gelebt – und mit der Isolation, die damit einhergeht – , dass meine Mutter mich nicht liebt und vielleicht nie geliebt hat.
Deshalb bin ich ein Chamäleon geworden, Mom.
Zwanghaft will ich dem gefallen, der mir genug Liebe bietet. Gibt er mir genug Liebe, verwandle ich mich in wen auch immer, nur um ihm zu gefallen. Solange er mir Zuwendung verspricht, bin ich sein. Und dabei blocke ich sämtliche Instinkte aus, zu sagen, was ich sagen will, zu sein, wer ich sein will. Aus Angst, denjenigen zu verlieren. Lange glaubte ich, wenn ich mein wahres Ich zeige, wenn ich aufstehe und nein sage, würde derjenige mich verlassen, so wie du es vor fast zwanzig Jahren getan hast.
Und selbst jetzt, wo du um einen Neuanfang bittest, beobachte ich mich dabei, wie ich dasselbe Spiel wieder von vorn beginne: Ich überantworte
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