Gestern war auch schon ein Tag - Erzählungen
die Decke um ihr helles Bein geknotet, kein Zucken, sie träumt nicht mehr. Es ist vorbei, ich kann gehen. Ich überlege, Marta zum Abschied auf die Stirn zu küssen, aber dann lasse ich es, sie hätte mich ausgelacht.
Ich suche die Ratte. Ich kann sie nicht hierlassen. Ratten fressen Aas. Ich muss sie fangen und mitnehmen. Ich rufe und imitiere dabei Martas Stimme.
Als ich Leberecht endlich zu fassen kriege, windet er sich in meiner Hand und beißt nach mir. Ich stopfe ihn in die Drogen-Tupperbox, mache sie zu und wickle Klebeband herum, damit er sich nicht befreien und an mir herumklettern kann. Ich höre sein Quieken, das Strampeln seiner Beinchen, das Ratschen seiner Krallen auf dem glatten Plastik. Ich stecke die Box in den Rucksack und den Schlüssel von außen in das Schloss. Draußen stehe ich im Licht, muss die Augen zusammenkneifen, bis sie sich an den Tag gewöhnt haben.
Im Zug durch den Abend, das späte Licht über den buckligen, flachen Feldern, den Entwässerungsgräben. Die Kühe, die Schafe, die dreihundert Grüntöne, die tausend Brauntöne, die Windräder, die krummen, alten Bäume, die langen Dächer, die schwimmenden Häuser.
Ich spiele das alte Spiel aus meiner Kindheit. Marta, die über Felder, über Bäume und Gräben springt, über Häuser, Misthaufen und Zäune, über Kuhherden, Anhänger und Traktoren.
[Marta, wie du jetzt über den Deich hüpfst und schrecklich lachst und vollkommen tot auf deinem Bett liegst. Vielleicht hat Liviu dich gefunden, vielleicht ist er schon abgehauen, der Arzt schreibt vielleicht schon an deinem Sterbebrief oder du bist schon in der Kühlkammer, wie Leberecht in seiner Box.]
Vor dem Bahnhof steht derselbe alte Bus, als wäre ich nie weg gewesen. Acht Stationen bis Hohe Klint, einen Euro vierzig. Die lange, dunkle Allee wischt am Fenster vorbei, still stehende Windrädersilhouetten am Horizont, Kühe auf den Feldern, ich steige aus und sehe dem Bus nach, bis die Landstraße ihn schließlich verschluckt. Dann laufe ich die paar hundert Meter zu unserem Hof, der mir jedes Mal kleiner vorkommt, wahrscheinlich wegen der Bäume, die immer größer werden und immer mehr vom Haupthaus und den Ställen verdecken. Als ich die Einfahrt hinunterlaufe, geht das Außenlicht an, ich kneife die Augen zusammen. Kein Hund, der bellt, schon lange nicht mehr. Ich stehe einen Moment, lege die Hand auf die Klinke. Dann gehe ich hinein, die Tür ist offen, wie immer.
Mein Vater sitzt in der Küche, einen Teller Suppe vor sich auf dem Tisch. Über ihm an der Wand hängt ein kleiner Kalender, auf dem noch Februar ist, von der Fensterbank rauscht das alte Röhrenradio. Er steht auf und nimmt mich in den Arm, klopft mir auf den Hinterkopf und stellt mir einen Schnaps hin. »Na, Paul«, sagt er und grinst so wenig er kann. Er geht zum Herd, rührt langsam mit der alten Blechkelle im Topf und stellt mir einen Teller auf den Tisch. Dann lacht er kurz und laut und drückt seine Hände aufeinander. »Was los?«, fragt er und guckt mich lange an. Ich schiebe die Suppe weg, dann sehe ich aus dem Fenster. Nur nicht weinen. Ich glaube, ich habe meinen Vater noch nie weinen sehen, nicht mal auf Mamas Beerdigung. [Vielleicht, Marta, hättest du mit deiner harten Schale doch hierher gepasst, vielleicht hattest du recht mit allem, vielleicht weißt du viel mehr von Friesland.] Und mein Vater packt meinen Kopf mit seiner Rechten und streichelt mich, streichelt mich zum ersten Mal seit – ich weiß nicht, wie lange das her sein mag. Fährt mit seiner riesigen, rauen Hand durch meine Haare, grinst ein bisschen, greift dann unter mein Kinn und dreht mein Gesicht zu sich. »Na«, sagt er, dann drückt er mit dem Daumen zwischen meine Augen und knetet ein bisschen. »Sind das Sorgenfalten?«
Ich stehe in meinem alten Zimmer und packe meine Tasche aus, lege die Klamotten auf der Fensterbank ab. Dann habe ich die Tupperbox in der Hand. Gegen das Licht der Glühbirne sehe ich die Umrisse der Ratte. Sie bewegt sich nicht, fällt hin und her, wenn ich die Box schüttele.
Ich steige in die mistigen Gummistiefel meines Vaters, der längst im Bett liegt und schläft. Hinter der Tür zur Melkküche brummen die Maschinen, im Kuhstall ist es warm, frisch eingestreut, im Verschlag in der Ecke zwei Kälber und ihre Mutter. Die zweigeteilte Holztür geht mit einem lauten Quietschen auf, draußen steht mir der Mond gegenüber, es ist erstaunlich hell, eine klare Nacht. Ich laufe über den kleinen
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