Gestern war auch schon ein Tag - Erzählungen
du nicht!« Sie funkelt mich an, krallt ihre Hand fest in meinen Nacken. [Vor was hast du Angst, Marta? Warum lässt du dir nicht helfen?] Ich tupfe ihr das Blut von den Lippen und vom Kinn, das Blut, das inzwischen einfach so aus ihrem Mund läuft. Wie viel Blut kann so ein dürrer, schwacher Körper verlieren, ohne kaputt zu gehen?
»Marta, kein Arzt, das geht nicht. Das ist Wahnsinn!«, sage ich. Sie richtet sich auf, drückt den Rücken durch, schiebt ihr Becken vor und atmet tief ein, ihre Augen tränen vor Anstrengung [Aber das zählt nicht, Marta, das war Tränenflüssigkeit, aber Tränen sind was anderes, ich habe dich nicht weinen sehen.] und sie wimmert leise, wenn sie Luft holt. Wenn sie es schafft, auszuatmen, ohne zu husten, dann nur mit einem Pfeifen, das klingt, als würde jemand weit weg immer wieder denselben Ton auf einer Blockflöte spielen. Marta zittert und versucht, mich anzulächeln, ich halte ihren Kopf, streichele ihren Rücken, lege eine Decke um sie. »Marta«, sage ich, mehr weiß ich nicht. Von draußen höre ich, wie die Tür geht, die Leute gehen.
»Zu Weihnachten, da zeig ich dir die Stadt, meinen Vater, meine alte Schule, die Straßen, die ich jeden Tag hoch- und runtergelaufen bin.«
»Ja!«, sagt Marta tonlos. »Rummelpottlaufen.«
[Friesland wird dich nicht enttäuschen, Marta, erzähl einfach weiter. Erzähl mir vom Friesentwist, von Möwen, die wie Kanarienvögel aussehen, von Haien und Korallenriffen. Vom friesischen Bauernvolk, das nur singend streitet. Und ich sage kein Wort von Fischmehl und Schweinedung, von Reiterball und Cola-Korn. Marta, kein Wort von unserem dunklen Hof, meiner teigfarbenen Mutter und wie mein Vater sie gefunden hat. Jahrelanges Stall ausmisten, Heu einfahren, Unkraut jäten, ich sage dir nicht, wie sehr ich das gehasst habe. Und wie verwildert heute alles ist, wie klein der Hof geworden ist, seit ich nicht mehr da bin. Mit dir nur Raps, Marta, ein kilometerweites, berstendes Gelb. Mit dir Kühe, überschaubare Weite, ein Horizont. Mit dir den ganzen Sommer im Heu schlafen, mit dir nur das Obst pflücken, nur Sonne auf den Bauch, nur nach dicken Kartoffeln graben. Stell dir vor, du hättest hierher gepasst, stell dir vor, Friesland hätte nur auf dich gewartet, ausgerechnet auf dich, Marta.]
»Was soll ich mit Leberecht machen, Marta? Was mach ich mit deiner scheiß Ratte?«, frage ich Marta, als wir in ihrem Bett liegen und es ruhig geworden ist in der Wohnung. Noch immer sickert Blut aus ihrem Mund, sie zittert am ganzen Leib, klammert sich an meinen Arm. Sie könnte sauer sein, sich vielleicht aufregen, so offen habe ich das nie angesprochen, aber es ist eine Frage, die geklärt werden muss, finde ich, und zwar jetzt. Eine praktische Frage, Marta sollte dafür Verständnis haben, sie ist ein praktischer Mensch.
Dann redet sie, ein winziges Krächzen. »Ein Tier begreift das ja gar nicht, den Tod. Also, Leberecht versteht doch gar nicht, was das ist, der Tod, das passiert ihm einfach, weißt du? Das ist der Unterschied. Wenn ein Mensch stirbt, dann ist doch das Schlimme daran, dass er es sich vorstellen kann und im selben Augenblick eben nicht. Darum hat man doch Angst.« Sie zuckt und kurz denke ich, sie schluchzt, aber sie schluchzt nicht, auch jetzt nicht, wie wir hier liegen in ihrem Blut, auf ihrem Bett. »Aber Leberecht stellt sich einfach gar nichts vor. Das gehört für ihn zusammen, Leben und Tod, für ihn ist das einfach so, verstehst du?«
»Kein Wort, Marta. Kein Wort.« Sie hustet, ich nehme sie in den Arm, rieche an ihrem Haar, lange und tief. Ihr zerkautes, dünnes Haar, ausgefranst und farblos. Martas Geruch: Zitronen, Talg, Lavendel und ihr ungelüftetes Bett.
Ich glaube manchmal, Marta und ich, wir waren auf eine sehr ähnliche Weise in Marta verliebt.
Wahrscheinlich haben wir deshalb so gut zusammen funktioniert: Weil wir beide fasziniert von ihr waren, froh, dass es sie gab und traurig, dass es sie bald nicht mehr geben würde. Wir fanden sie beide geheimnisvoll, weise und interessant. Wir hörten ihr gern zu, wir sahen sie gern an, wir verbrachten gerne Zeit mit ihr, wir wollten sie nicht entzaubern, wir wollten die Zeit, die uns mit Marta blieb, einfach noch ein bisschen genießen.
Wir liegen in ihrem riesigen Bett, ich höre das Unwetter draußen. Ein gemütlicher Donner, wie rollende Fässer, die gegeneinanderpoltern. Hier drinnen pfeift Martas Atem schwach und sie probiert, mit den unterschiedlichen
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