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Gestern war auch schon ein Tag - Erzählungen

Gestern war auch schon ein Tag - Erzählungen

Titel: Gestern war auch schon ein Tag - Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mairisch
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nur noch verloren: Die Übersicht, die Kontrolle. Ich kann verstehen, warum sie oft so verzweifelt und böse war.
    Sie war da und am Leben und noch immer eingebunden in die Tage und Abläufe. Sie hatte Aufgaben. Aufgaben, die immer weniger und immer kleiner wurden. Aber erst ganz zum Schluss hat sie aufgehört, den Kaffee zu mahlen, die Kartoffeln zu schälen. Das hat sie gekonnt und mit Hingabe gemacht. Solange sie laufen konnte, musste sie durch jede Tür gehen und ständig alle Schubladen auf- und zumachen, die Fenster öffnen und schließen in einer Schildkrötenlangsamkeit. Jeden Morgen saß sie in der Küche und las die Zeitung, das heißt, sie hielt sie in der Hand, oft falsch herum. Und immer wollte sie nach Hause, und wenn ich ihr sagte, sie sei zu Hause, kniff sie die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. Es arbeitete in ihr, sie versuchte, die Verstörung zu verbergen, schwitzte, bekam einen panischen Blick. Und meistens sagte sie dann: »Hauptsache, ich habe einen Platz zum Schlafen.« Und wollte fünf Minuten später wieder nach Hause.
    Es sind ihre Pläne, die im ganzen Haus verteilt hängen. Unsere Tage laufen in ihrem Takt. Aufstehen, Frühstück, Waschen, Kochen, Schlafen, alles zu festen Zeiten, seit ich klein bin.
    »Der Tom, der braucht Struktur!«, hat sie gesagt. Und heute kommt es mir vor, als hätte sie etwas geahnt, als hätte sie alles für sich selbst vorbereitet. Das Haus: Treppensicherung, rutschfeste Böden, Haltegriffe im Bad, bewegungsgesteuerte Lichtschalter, rutschfeste Unterlagen auf dem Tisch, Kunststoffgeschirr. Unsere Ordnung ist ihre Ordnung. In der Küche hängt noch immer der Putzplan, den sie vor Jahren aufhängt hat, die Tagespläne habe ich inzwischen neu gemacht, aber nach ihrem Vorbild. Übersichtlich steht dort, wann ich Tom wo abholen oder hinbringen muss, wann wer kommt, um ihn zu holen oder Großmutter zu pflegen, wann ich einkaufe und was. Die Buchhaltung, das Kochen, Großmutters Schule.
    Sie war da, wie immer schon, nur unwichtig, ohne Funktion, sozusagen. Ihre bloße Präsenz reichte, um alle alten Spielregeln aufrechtzuerhalten. Mich wundert, dass wir keine der Gewohnheiten infrage gestellt haben, obwohl Großmutter nichts von dem verstand, was wirklich passierte. Wir rannten wie früher, wie immer, durch den Flur, und Tom sagte jedes Mal in der Küche: »Nein, Elli, nein!«, auch wenn es schon Jahre her war, dass Großmutter das zum letzten Mal gesagt hatte. Seit Toms Unfall war das Rennen im Haus verboten, darauf hat Großmutter immer bestanden, wegen der Verletzungsgefahr, aber gerade deshalb haben wir es immer getan. So geht das Spiel: Tom wird gejagt und muss es in die Küche schaffen, ohne dass man ihn kriegt, denn da steht Großmutter und verbietet das Rennen.Wir aßen ihr Essen, ich kochte ihre Rezepte, Nudelsuppe, Kohlrouladen, Wurzelgemüse. Nur ganz selten gab es Pommes, die wir uns immer noch heimlich machten, und nur, wenn Großmutter nicht da war, wenn der Pfleger sie am Donnerstag holte, oder früher, wenn sie unterwegs war bei Freunden, zu Ausstellungen oder bei ihrer Schwester. Danach lüftete ich den Rest des Tages, wie früher, um nicht erwischt zu werden, als ob Großmutter noch was zu sagen gehabt hätte.
    Es war ein langer Abschied. Ich konnte ihr dabei zusehen, wie sie Tag für Tag aus sich selbst herausgetröpfelt ist, immer weniger wurde. Manchmal, immer seltener, war sie noch die Frau, die uns großgezogen hatte, aber abends, vor allem abends, war sie jemand, den ich nicht mehr kannte. Mag sein, dass ein langer Abschied am Ende weniger schmerzhaft ist. Ich habe mich darauf vorbereiten können. Plötzlich kommt der Moment dann doch. So plötzlich, dass ich nichts fühle, obwohl ich ahne, wie es sein wird. Ich sehe mich schon in der Stille der Küche sitzen und weinen, sehe mich das Radio einschalten, um ein Geräusch im Ohr zu haben, das ihr Gebrabbel ersetzt. Ich weiß: Ich werde in den Nächten an sie denken und überlegen, was ich ihr noch alles gern gesagt hätte. Sie wird fehlen, ich weiß. So ist das, ich kann es mir vorstellen, schon jetzt, wo das Gefühl noch abgestellt ist. Das ist so, wie wenn man einen Nagel in ein Brett schlagen will und ihn verfehlt und sich mit dem Hammer auf den Finger schlägt und eine halbe Sekunde lang gar nichts spürt, nur den dumpfen Aufprall, aber sofort die Bilder im Kopf hat: Von einem dicken, blauen Finger, von zerschmetterten Knochen, von einem Verband und abgelöstem Nagel. Man weiß, was

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