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Gestern war auch schon ein Tag - Erzählungen

Gestern war auch schon ein Tag - Erzählungen

Titel: Gestern war auch schon ein Tag - Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mairisch
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Jackentasche und holt Zigaretten hervor. Vielleicht bilde ich es mir nur ein, aber es sieht so aus, als atme er tief in diesem Augenblick, tief und mit geschwellter Brust, er legt den Kopf ein bisschen in den Nacken.
    Ich stehe über ihm, hier im ersten Stock am Fenster, mit den Kniescheiben in den Heizungsrippen, und er hat keine Ahnung, dass ich ihn beobachte und ein bisschen auslache. Ich bin die Jüngste, drei Jahre jünger als Tom, zwölf Jahre jünger als Willem. Das letzte Mal haben wir uns gesehen, als ich dreizehn war. Willem steckt sich eine Zigarette zwischen die Lippen und raucht. Er sieht die Straße hinab, wahrscheinlich erinnert er sich jetzt. Er war lange nicht hier, sechs Jahre. Er sieht zu seinem Wagen, bläst Rauch in die Luft und prägt sich den Moment ein. Er spielt es nach, denke ich, er hat es irgendwo gesehen, in einem amerikanischen Film oder so – wie ein verlorener Sohn, der nach Jahren nach Hause kommt. Mit Zigarette natürlich, denn inzwischen raucht der verlorene Sohn, die Zeiten haben sich geändert, er ist so was von erwachsen geworden, er hat jetzt ein eigenes Leben, mit Zigaretten, mit Frau und Kind und Kombi, und wenn er zurückkommt, für einen Moment, zurück zu dem Ort, wo er aufgewachsen ist, dann kommt er mit Nostalgie, mit Sich-noch-mal-Umdrehen, mit Tief-Einatmen. Ich lache über meinen großen Bruder und seinen großen Auftritt vor unserem kleinen Vorgarten. Ich sehe ihm gern von hier oben zu, ich erkenne ihn wieder und lache ihn aus. Ich hatte mich an das Fenster gestellt vor gut einer Stunde, weil ich wusste, dass Willem bald kommen würde. Und ich wollte nicht von seinem Klingeln überrascht werden oder davon, dass er einfach vor mir in der Küche steht. Ich wollte ihn sehen, bevor er mich sieht. Das war der Grund: Ich wollte vorbereitet sein.
    Willem drückt die Zigarette am Betonpfeiler des Vorgartentürchens aus, sorgfältig, so war er immer. Er geht auf die andere Straßenseite und schmeißt den Stummel in einen Mülleimer. Dann lässt er das Vorgartentürchen offen stehen. Noch ein oder zwei stille Sekunden und ich höre es klingeln. Willem hat noch immer einen Schlüssel zum Haus, das weiß ich. Sicher hat er ihn noch immer an seinem Bund. Aber Willem klingelt. Und ich höre, wie Tom unten durch den Flur springt und »Bsuch, Bsuch« ruft. Das macht er immer, wenn es klingelt.
     
    Seit vorgestern, seit Großmutter tot ist, ist das Fühlen in mir abgestellt. Ich mache alles, was gemacht werden muss. Ich telefoniere und setze Schreiben auf, ich gehe zu den Behörden, zur Kirche, ich organisiere und koche, kümmere mich um Tom, ich schlage fremde Hilfe aus und sage jedem, der mir welche anbietet: »Geht schon, geht schon. Das schaffe ich schon, das schaffe ich doch längst allein. Viel hat sie in der letzten Zeit ja sowieso nicht mehr gemacht.« Denn genauso ist es: Wenn sich der Trubel dieser Tage gelegt hat, wird es sogar weniger Arbeit sein. Ohne Großmutter. Sie wird nicht mehr in der Küche im Weg rumstehen. Ich werde ihr nicht länger jeden Tag in die Augen sehen und so tun müssen, als würde ich das sich ständig wiederholende Gebrabbel aus abgebrochenen und vernuschelten Sätzen verstehen, und ich werde nicht mehr laut »Ach so« sagen müssen. Ich werde nicht mehr fünfunddreißig Minuten brauchen, um mit ihr zum Supermarkt am Ende der Straße zu laufen.
     
    Großmutter war eine verknitterte Erinnerung an die Frau, die Tom und mich und für eine Zeit lang auch Willem damals aufgenommen hatte. Ihr zielloser, wirrer Blick und ihre entzündeten, roten Augen haben nur noch schwach daran erinnert, wie klug sie mal gewesen ist. Als sie das erste Mal morgens in der Küche saß, mit leerem Gesicht und Einkaufstüte auf dem Kopf, habe ich noch gelacht und gehofft, das sei Humor. Da sah sie noch ganz normal aus, nur in ihr drinnen löste sich schon alles auf. Zum Schluss hat man es auch von außen gesehen, ihre empfindliche Papierhaut, wie mager sie geworden war, ihre wirren Blicke, und ich dachte: Wie schnell das alles ging, und wie wenig übrig geblieben ist. Was für eine stolze, schöne Frau sie mal war! Elegant, beherzt, zupackend. Sie hat uns damals kurz entschlossen zu sich genommen, völlig selbstverständlich. Sie hat uns aufgefangen und großgezogen. Sie hat uns ernährt, geliebt und erzogen. Und diese Frau sitzt plötzlich da, brabbelnd und ohne Sprache. Als hilfloses, faltiges Kind, das kein Kind ist, weil ein Kind entdeckt und begreift. Großmutter hat

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