Gestohlene Leidenschaft
ihrem Weinglas.
„Neugierig sind Sie ja gar nicht.“ Sie rang sich ein Lächeln ab. „Also gut. Wie Sie bereits wissen, habe ich meine Doktorarbeit über …“
„Ihre berufliche Laufbahn meine ich nicht.“
Schweigen. Sie wollte und musste sich aufs rein Berufliche beschränken.
„Wo sind Sie geboren?“, fragte er geduldig.
„In Cambridge“, antwortete sie widerstrebend.
„Und dort haben Sie auch studiert und Ihre Doktorarbeit geschrieben?“
„Ja.“
„Sie müssen das alles recht zügig durchgezogen haben“, überlegte er. „Älter als dreißig werden Sie ja kaum sein.“
„Zweiunddreißig.“
„Wissen Sie, dass ich auch in Cambridge studiert habe?“
Grace nickte. Im Flugzeug hatte sie es in dem Dossier gelesen, das Michel für sie zusammengestellt hatte.
„Wir müssen etwa zur gleichen Zeit dort gewesen sein. Allerdings bin ich einige Jahre älter als Sie.“
„Das ist ja ein unglaublicher Zufall.“
„Machen Sie sich über mich lustig, Grace?“
„Nein, nein.“ Wäre Khalis Tannous damals irgendwo in ihrer Nähe aufgetaucht, hätte sie es sicher bemerkt. Vielleicht aber auch nicht, denn sie war ja in einen anderen Studenten verliebt gewesen und hatte nur Augen für ihn gehabt. Ein eisiger Schauer lief ihr bei der Vorstellung über den Rücken, Khalis und Loukas könnten sich über den Weg gelaufen oder sogar befreundet gewesen sein. Wenn Loukas herausfand, wo sie sich gerade aufhielt … Nicht auszudenken, was er hinter ihrer Geschäftsreise vermutete! Er war unglaublich misstrauisch und würde ihr vielleicht verbieten, Katerina zu sehen. Ich hätte mich niemals von Michel zu diesem Auftrag drängen lassen, dachte Grace verzweifelt.
„Was ist denn, Grace?“, fragte Khalis besorgt. „Sie sind plötzlich ganz blass.“
„Entschuldigung.“ Sie suchte nach einer Ausrede. „Der Flug hat mich wohl etwas erschöpft. Außerdem habe ich seit dem Frühstück nichts mehr gegessen.“
„Dann wird es Zeit, dass Sie etwas zu sich nehmen.“ Wie aufs Stichwort servierte eine junge Frau eine große Platte.
Khalis richtete einen Teller mit Couscous, Lamm und Gurken-Joghurt-Salat für Grace an, die geistesabwesend zusah. Inzwischen hatte sie sich wieder beruhigt. Schließlich war es höchst unwahrscheinlich, dass Khalis und Loukas sich kannten. Wahrscheinlich litt sie tatsächlich unter Verfolgungswahn. Aber die Vorstellung, Loukas könnte ihr das Besuchsrecht für ihre Tochter entziehen, war einfach zu schrecklich.
„Guten Appetit“, wünschte Khalis, und Grace rang sich ein Lächeln ab.
„Das sieht köstlich aus.“
„Und warum betrachten Sie das Essen dann, als wäre es Ihre Henkersmahlzeit?“
Ihm entgeht wohl gar nichts, dachte sie und presste zwei Finger gegen die Stirn, als sich einer ihrer Migräneanfälle ankündigte. „Eine köstliche Henkersmahlzeit“, witzelte sie. „Tut mir leid, ich bin einfach nur müde.“
„Möchten Sie lieber auf Ihrem Zimmer essen?“
„Nein danke, es geht schon.“ Sie lächelte tapfer und probierte vom Couscous, während Khalis sie eindringlich musterte.
„Sie sind also in Cambridge aufgewachsen?“, fragte er schließlich.
„Ja. Mein Vater war Dozent am Trinity College.“
„War?“
„Er ist vor sechs Jahren gestorben.“
„Das tut mir leid.“
„Mir tut es auch leid, dass Sie Ihren Vater und Ihren Bruder verloren haben, Khalis.“
„Danke, aber das ist nicht nötig.“
Grace, die gerade einen weiteren Bissen nehmen wollte, hielt verwundert inne. „Auch wenn Sie Ihrer Familie den Rücken gekehrt haben, muss es doch trotzdem ein schmerzlicher Verlust sein.“
„Für mich sind sie schon seit fünfzehn Jahren fort – seit ich damals gegangen bin“, erklärte Khalis gleichmütig. Doch Grace spürte, wie hart ihn das innerlich gemacht haben musste. Ein Khalis Tannous gab niemandem eine zweite Chance.
„Aber sie müssen Ihnen doch gefehlt haben?“
„Nein.“ Das klang so bestimmt, dass Grace nicht wagte nachzuhaken.
„Gefällt Ihnen das Leben in den Staaten?“, wechselte sie das Thema.
„Ja.“
„Was hat Sie dazu bewogen, nach Amerika zu gehen?“
„Es ist weit weg.“
Offensichtlich gab es keine unverfänglichen Fragen. Daher gab Grace auf und widmete sich dem Essen auf ihrem Teller. Nur das Rascheln der Palmwedel und das leise Rauschen des Meeres waren zu hören. Wäre die Mauer nicht gewesen, hätte Grace sich auf dieser idyllisch gelegenen Mittelmeerinsel wie im Paradies fühlen können. So kam sie
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