Gestohlene Wahrheit
sein.
Die beiden letzten Stunden waren doch nicht real gewesen, oder?
Sie hatte sich nicht mitten in einem Feuergefecht befunden, die liebenswerte Patti war nicht wirklich tot, der Wachmann wurde nicht gerade operiert und hatte keine äußerst geringen Überlebenschancen, und die Polizei von Chicago vertuschte die ganze Sache nicht und gab sie als Zwischenfall zwischen rivalisierenden Gangs aus – aufgrund der strikten Anweisung von jemandem, der
sehr
weit oben in der Regierung saß.
Doch als sie die ernsten Gesichter von Nate, Frank, Ozzie und dem geheimnisvollen Mann oder besser: Dagan Zoelner anstarrte, schüttelte sie den Kopf. Sie konnte es nicht leugnen, das war alles wirklich passiert. Sie
war
mitten in einem Feuergefecht gewesen, Patti
war
tot, die Polizei
hatte
alles vertuscht, und Manus (sie hatte erfahren, dass er der Bruder des Rothaarigen war) lag in diesem Moment wirklich auf dem Operationstisch.
In diesem sehr realen Moment.
Zu allem Übel würde sie jetzt gleich möglicherweise auch noch herausfinden, dass ihr Bruder wirklich streng geheime Dateien gestohlen hatte, um sie auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen, wie es der ehemalige Agent Zoelner behauptete.
»Wir sind drin«, verkündete Ozzie, dessen breite, bewegliche Finger über die Tastatur flogen. »Sieht aus wie ein Haufen Excel-Dateien und eine … Moment … Da scheint auch eine Videodatei zu sein.«
»Abspielen«, knurrte Frank, drehte sich auf seinem Stuhl herum und verzog das Gesicht. »Vielleicht verrät sie uns, worum zum Henker es hier eigentlich geht.«
Sie sah den großen Mann an. Sein raues Gesicht war von Trauer und Sorge gezeichnet, aber er schien sich zusammenreißen zu können. Trotz der furchtbaren Tragödie der letzten Stunden und der Tatsache, dass es noch schlimmer kommen könnte, wenn Manus bei der Operation sterben würde und sie herausfänden, dass Grigg tatsächlich zum Verräter geworden wäre, hatte er sich erstaunlich gut im Griff.
Sie vermutete, dass harte Männer wie er das in solchen Situationen einfach konnten.
Sie rissen sich zusammen, damit Menschen wie sie den amerikanischen Traum leben konnten. Frei, friedlich und … unglaublich ahnungslos.
Aus irgendeinem Grund erschien ihr das besonders schrecklich und bewirkte zusammen mit der Erinnerung an Patti, die blass und leblos in einer riesigen Blutlache mitten zwischen Schokokeksen gelegen hatte, dass ihr auf einmal übel wurde.
Sie würde nie wieder einen Schokokeks essen können, nie wieder.
»Örks.« Sie legte sich zwei Finger vor den Mund und sah sich im Raum um.
Stand neben der Tür in Franks Büro nicht ein Plastikmülleimer? Wenn sie sich wirklich übergeben musste, konnte sie es gerade noch bis dorthin schaffen …
Oh Mist. Sie dachte nicht länger an Blut, Schokokekse, Plastikmülleimer oder irgendetwas anderes, denn plötzlich erschien das freundliche Gesicht ihres Bruders auf Ozzies riesigem Bildschirm, und ihr gefror der Atem in den Lungenflügeln zu zwei großen Eisklumpen. Das Blut in ihren Venen schien abzukühlen, und sie bekam am ganzen Körper Gänsehaut.
»Hey, Ozzie«, sagte Grigg, und der Klang seiner wunderbar vertrauten Stimme erstickte sie beinahe.
»Atme, Ali.« Nates kräftige Finger drückten ihre zitternde Schulter. »Atme, Süße.«
Gute Idee, dann würde immerhin irgendetwas in ihr funktionieren, wenn schon ihr Herz immer wieder gebrochen wurde und das Blut in ihren ohnehin schon überreizten Magen floss.
»Klasse, dass du meinen Code geknackt hast«, fuhr Grigg fort, dessen hübsches Gesicht genauso aussah, wie sie es in Erinnerung hatte. Attraktiv, verlässlich, etwas störrisch … okay,
sehr
störrisch. »Das war vermutlich kein großes Problem für dich«, meinte er kichernd, und dieses Geräusch jagte ihr einen spitzen Pfeil durch ihr Herz und ihre zusammenbrechende Selbstbeherrschung.
»So«, im Video beugte sich Grigg näher an den Bildschirm heran, und sie hielt den Atem an, »wenn ihr das hier seht, heißt das, dass Ghost bei euch ist. Hi, Kumpel.« Er winkte.
»Großer Gott«, murmelte Nate mit belegter Stimme.
»Und ich bin vermutlich tot.« Griggs Bild schnitt eine Grimasse, wobei seine Nase sich auf die Weise in Falten legte, die Ali so liebte. »Tut mir echt leid.«
»Mann«, murmelte Nate erstickt und wandte sich ab, und das war zu viel für Ali. Die Tränen, die sich schon in ihren Augen gesammelt hatten, strömten ihr heiß und salzig über die Wangen.
Irgendjemand reichte ihr ein
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