Gesundheit, Herr Doktor!
hungrigen Hund.
Sie öffnete die Tür zu ihrem aus Glas und Chromstahl bestehenden Verschlag; Sir Lancelot hockte mit baumelnden Beinen auf ihrem Schreibtisch und überflog durch seine halbmondförmigen Brillengläser hindurch eine Abendzeitung.
«Guten Abend, Lancelot.»
«Abend.»
Sie zog, stehenbleibend, die Vorderseite ihres blauen Kittels straffer. Er las weiter in der Zeitung, ohne sich stören zu lassen.
«Lancelot, das Ende dessen, was wir unter Zivilisation verstehen, ist gekommen», eröffnete sie die Konversation.
«Die Aufregung auf der Station ist mir nicht entgangen», gab er gelassen zurück. «Aber sie wird sich ohne Zweifel bald in der eigenen Hitze verflüchtigen.»
«Mein Neffe ist von Größenwahn erfaßt worden. Genauso wie Stalin und die mit ihm (oder gegen ihn?) verschworenen Ärzte. Haben Sie Pip auf dem Bildschirm gesehen?»
«Ich sehe nur bei Cricketspielen auf Bildschirme.» Sir Lancelot hob noch immer nicht den Blick.
«Die Art und Weise, wie diese Gewerkschaften heutzutage alles an sich zu reißen versuchen, ist geradezu schreckenerregend. Ich verstehe wirklich nicht, warum die Arbeiter ständig mehr und mehr Geld wollen. Wofür können sie es denn noch ausgeben? Sie erhalten freie ärztliche Behandlung und freie Ausbildung, Zuschüsse zu Ernährung, Wohnung und Transportmitteln, schließlich freie Altersversorgung. Ihren Lohn verschwenden sie ausschließlich für Pauschalreisen und Lottospielen. Es sollte gesetzlich verboten werden.»
«Ach, Gesetze nützen gar nichts», erwiderte er. «Das Parlament hat keine Bedeutung mehr, seit das Land auf diese merkwürdige Art vom Kongreß der Gewerkschaften regiert wird, wobei die öffentliche Meinung Ihrer Majestät getreue Opposition bildet.» Sir Lancelot blickte endlich auf und zog die Nase kraus. «Hat irgendjemand Äther verwendet, Oberin? Ich hätte eigentlich geglaubt, daß die Anästhesisten dieses stinkende Zeug schon seit Jahren aufgegeben haben. Die Gewerkschaften wollen alles mögliche herausschinden, wie jede andere Person oder Organisation oder Nation in der Geschichte.» Er versenkte sich wieder in die Zeitung. «Na, jedenfalls sind demokratische Gewerkschaften Organismen, die sich selbst vernichten. Zuerst machen sie ihre Arbeitgeber bankrott, dann etablieren sie den Kommunismus, der sie gleichschaltet. Zum Glück braucht dieser Prozeß seine Zeit, und selbst das britische Volk wird früher oder später erwachen. Oder sich zumindest in seinem Schlaf herumwälzen.»
«Sie sind also der Meinung, daß man nichts gegen diesen abscheulichen Streik unternehmen kann?» fragte sie deprimiert.
«Im Gegenteil, ich beabsichtige, ihn morgen vormittag zu beendigen. »
Sie sah ihn ungläubig an, doch dann verklärte Anbetung ihre Züge. «O Lancelot», rief sie, «aber wie?»
«Auf meinem Rundgang durch die Station.» Er faltete die Zeitung zusammen und legte sie auf den Schreibtisch. «An dem teilzunehmen ich den jungen Mann nachdrücklich ersucht habe. Er weist in besonders virulenter Form jenes Syndrom auf, das ich an meinen frisch qualifizierten Studenten so häufig beobachte. Ein plötzlicher Andrang von Geltungsbedürfnis im Gehirn kann geradezu beängstigende Symptome hervorrufen. Zudem leidet der junge Mann an einer Überdosis von blindem Eifer, jener Droge, die so rasch zu Kopf steigt. Zum Glück läßt sich das Übel leicht kurieren. Ein Stich in seine edleren Teile, und was sich aufgeblasen hat, fallt mit lautem Knall in sich zusammen.»
«O Lancelot», wiederholte die Oberin. «Ich verehre Sie jeden Tag und in jeder Weise mehr und mehr.»
«Was hält übrigens Pips Vater von der ganzen Sache?»
«Ich habe kein Wort von ihm gehört. Wahrscheinlich ist er damit einverstanden. Auch er ist von ausgefallenen und exzentrischen Ideen besessen.»
«Die einzige Idee von Pips Vater, an die ich mich erinnern kann, war, sich auf eine winzige Praxis in Somerset zurückzuziehen und für so wenig Geld, wie zum Leben unumgänglich notwendig ist, so wenig wie möglich zu arbeiten. Daran finde ich kaum etwas Exzentrisches. »
«O Lancelot.» Sie trat ganz nahe an den Schreibtisch heran. «Ich wußte schon zu Beginn dieser schrecklichen Sache, daß es einen Mann Ihres Kalibers erfordern würde, um die Ereignisse unter Kontrolle zu halten. Der Institutsvorstand zittert vor Angst.»
«Da haben Sie recht. Wenn die Ärzte mit einer Situation konfrontiert werden, der sich die Besitzer von Dampfwäschereien oder Wurstfabriken jede Woche
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