Getrieben: Thriller (German Edition)
im Koran? Wenn Mohammed nicht zum Berg kommt, muss der Berg eben zu Mohammed kommen.
Kurz darauf trat sie durch eine große Doppeltür ins grelle Sonnenlicht des zweiunddreißig Grad Celsius heißen Tages im Spätherbst und fand sich inmitten der Großstadt Dubai am Persischen Golf wieder.
Am Auto angekommen, holte sie ihr Handy aus der Tasche und wählte eine Nummer. Am anderen Ende der Leitung meldete sich jedoch nicht Moskau, sondern Washington, D. C.
»Ich bin’s, Emma«, sagte sie. »Die Sache läuft. Mitternacht in der Freihandelszone von Sharjah. Der Prinz wird sich persönlich die Ehre geben.«
4.
Das Mädchen mit Namen Amina war neun Jahre alt und spindeldürr. Sie hatte glänzendes schwarzes Haar und Rehaugen, die sich schon bei ihrer ersten Begegnung tief in Jonathans Gedächtnis eingebrannt hatten. Sonst wusste er nichts über sie. Nicht, ob sie in die Schule ging, lesen und schreiben konnte, ob sie gerne stickte oder ein Wildfang war, der lieber Fußball spielte. Amina konnte es ihm nicht sagen, und afghanische Eltern sprachen mit Fremden nicht über ihre Kinder. Aber all das spielte auch gar keine Rolle. Als Arzt wusste Jonathan seit dem ersten Blick auf Aminas Gesicht alles, was er wissen musste. Schon damals hatte er sich geschworen, dem Mädchen zu helfen.
Jetzt lag Amina narkotisiert auf dem Operationstisch vor ihm. Es gab kein Beatmungsgerät, das eine konstante Sauerstoffzufuhr gewährleistet hätte. Ebenso wenig gab es ein Blutgasgerät zur Kontrolle des Anästhetikums oder bereitliegende Blutkonserven im Falle eines Blutsturzes. Jonathan trug noch nicht mal eine OP-Maske, geschweige denn OP-Kleidung. Er konnte nur auf seine Erfahrung und seine Fähigkeiten, die Generika und »den Willen Gottes«, wie die Afghanen es nannten, vertrauen.
»Womit fangen wir an?«, fragte Hamid.
»Mit dem Gesicht. Die Rekonstruktion des Gesichts ist am schwersten und dauert am längsten. Dafür müssen wir fit und ausgeruht sein.« Die Raumtemperatur war kaum höher als zehn Grad. Jonathan massierte seine eisigen Finger. »Also, auf meiner Uhr ist es genau acht Uhr fünfzehn. Lass uns anfangen. Skalpell.«
Mit dem Instrument in der Hand betrachtete er konzentriert Aminas Gesichtszüge und überlegte, wie er am besten vorgehen sollte. Unterhalb des Kinns befand sich ein Loch von der Größe seines kleinen Fingers. Dort war die Kugel eingetreten. Die Austrittsstelle war eine große Wunde an Nase und Gaumen. Amina war nicht im eigentlichen Sinne ein Opfer des Krieges. Sie war das Opfer der Sorglosigkeit und einer Kultur, in der Waffen im Haus so selbstverständlich vorhanden waren wie Besen und Handfeger.
Vor einem Monat hatte Amina beim Spielen mit dem jüngeren Bruder die Waffe des Vaters, ein AK47, als Krücke oder Gehstock benutzt. Sie hatte den Schaft der Waffe zwischen die Füße gestellt, beide Hände auf den Lauf gelegt und das Kinn auf den Händen abgestützt. Niemand konnte später sagen, wie genau es zu dem Unglück gekommen war. Vielleicht hatte ihr Bruder sie geschubst oder einer von beiden war versehentlich gegen die Waffe getreten. Keines der Kinder hatte gewusst, dass im Gewehrlauf noch eine Kugel steckte und die Waffe nicht gesichert war. Jedenfalls löste sich der Schuss, und eine mit Kupfer ummantelte 7.62-mm-Patrone war durch Aminas Hände, ihren Unterkiefer und Gaumen bis in die Nasenhöhle gedrungen, wo sie zum Glück auf einen Knochen traf. Die Kugel prallte im Neunzig-Grad-Winkel vom Knochen ab, was Amina wahrscheinlich das Leben rettete. Beim Austritt aus dem Schädel zerstörte sie jedoch den größten Teil der Nasenscheidewand und des umliegenden Gewebes.
Doch das war erst der Anfang der Tragödie.
Mit nahezu unverminderter Geschwindigkeit schoss die Kugel auf ihrem neuen Kurs durch den Raum und traf Aminas Bruder an der Schläfe. Sie drang in sein Gehirn ein und tötete den Jungen auf der Stelle.
Die Operation erforderte Jonathans ganze Erfahrung und Kunstfertigkeit. Im Hinblick auf das Ergebnis machte er sich jedoch nichts vor. Aminas Schönheit war unwiederbringlich zerstört. Er konnte nur versuchen, ihre Gesichtszüge so weit wiederherzustellen, dass die Menschen sie nicht mehr entsetzt anstarrten und es ihr eines Tages vielleicht sogar gelänge, einen Mann zu finden.
Eine Stunde verging. Von draußen drangen Kampfgeräusche mal lauter, mal leiser zu ihnen herein. Längere Pausen wurden abrupt vom Rattern eines Maschinengewehrs oder dem dumpfen Knall einer explodierenden
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