Getrieben: Thriller (German Edition)
Auftauchen in dieser Gegend verwirrte Jonathan. Khos-al-Fari war ein armes Dorf, weit abseits des gewinnträchtigen Mohngürtels und ohne strategische Bedeutung. »Was will er hier oben?«
»Keine Ahnung«, antwortete Hamid ungeduldig. »Spielt das eine Rolle?«
Der Vater des Jungen in Jonathans Behandlungszimmer legte den Arm um die Schultern des Sohnes und führte ihn eilig aus dem Raum.
»Sag allen, dass sie morgen wiederkommen sollen«, sagte Jonathan zu Hamid. »Mit Ausnahme von Amina. Sie kann nicht länger warten. Bring ein Tablett mit allen notwendigen Instrumenten in den OP-Raum, und sorg dafür, dass ausreichend Betäubungsmittel vorhanden sind.«
Hamid sah Jonathan an, als hätte dieser den Verstand verloren. »Du willst sie wirklich jetzt operieren?«
»Sie hat lange auf die OP gewartet.«
»So eine OP dauert vier Stunden.«
»Länger. Bei einer Gesichtsrekonstruktion weiß man nie so genau, wie viel Zeit man braucht.«
»Gib ihr einfach Medizin gegen die Infektion. Wir kommen ein anderes Mal wieder und führen dann die OP durch.«
»Sie hat lange genug gewartet.«
Eine heftige Detonation in der Ferne ließ die Wände der Krankenstation erbeben.
»Granaten«, bemerkte Hamid und stürzte zum Fenster. »Gestern haben Sultan Haq und seine Männer achtzehn Menschen umgelegt. Zehn von ihnen hat Haq höchstpersönlich erschossen. Ein Amerikaner dürfte auf seiner Liste ganz oben stehen.«
»Und was ist mit dem Paschtunwali?«, fragte Jonathan. »Die Dorfbewohner werden uns beschützen.«
Das Paschtunwali bezeichnete den Ehrenkodex der afghanischen Paschtunen. Die Gastfreundschaft und der Schutz von Besuchern rangierten im Paschtunwali an oberster Stelle.
»Wenn sie von einem waffenmäßig überlegenen Feind angegriffen werden, solltest du dich besser nicht zu sehr darauf verlassen. Wir müssen sofort von hier verschwinden.«
»Bereite das Tablett mit den Instrumenten vor, Hamid.«
Hamid verließ seinen Posten am Fenster und baute sich direkt vor Jonathan auf. »Hau ab von hier, oder sie werden dich töten.«
»Wir werden sehen.«
»Und was ist mit mir?«
»Du wolltest alles von mir lernen. Deshalb bist du hier. Jetzt hast du die Chance dazu. Bei einer OP wie dieser hast du noch nie assistiert. Betrachte es als einmalige Gelegenheit.«
Die Krankenstation wurde von einer neuen Explosion erschüttert. Die Angreifer schienen näher zu kommen. Jonathan und Hamid hörten das Rattern von Maschinengewehren. Dann herrschte wieder Stille.
»Mich werden sie auch töten«, sagte Hamid. »Ich habe dir geholfen. Außerdem bin ich ein Hazara.«
Jonathan durchsuchte seine Taschen nach dem Wagenschlüssel und warf ihn Hamid zu. »Geh schon. Ich kann dich verstehen. Du warst eine echte Hilfe für mich. Ich schulde dir viel.«
»Aber ohne mich kannst du Amina nicht operieren.«
»Es wird nicht einfach werden, aber unmöglich ist es nicht.«
Hamid warf einen Blick auf den Schlüssel in seiner Hand. Dann lehnte er resigniert den Kopf an die Wand und seufzte. »Zum Teufel mit dir«, sagte er schließlich.
»Bereite alles für die OP vor«, erwiderte Jonathan.
3.
In Les Grandes Alpes schneite es. Dicke Flocken rieselten aus einem erstaunlich wolkenlosen Himmel lautlos auf den Berghang. Dem Namen nach hätte man annehmen können, dass Les Grandes Alpes in der Schweiz lagen, aber die Anlage befand sich weder dort noch irgendwo sonst in Europa. Auch das Skigebiet war alles andere als imposant. Es gab nur eine einzige, gut präparierte Skipiste, die in drei Abschnitte unterteilt war: zuerst steil, dann flach und schließlich sanft abfallend bis ins Tal.
Die junge Frau mit Namen Lara Antonowa jagte wie ein Profi über die Piste, Skier dicht beieinander und die Hände an den Hüften. Es war kurz nach drei, und auf der Piste tummelten sich jede Menge Skifahrer. Die meisten von ihnen waren Anfänger und bereits mit dem einfachen Schneepflug hoffnungslos überfordert. Lara sauste mit elegantem Schwung zwischen den anderen Skifahrern hindurch und blickte sich dabei suchend nach einem bekannten Gesicht um. Sie trug eine weiße Stretchhose und einen türkisfarbenen Daunenanorak. Ihre rotbraunen Haare hatte sie zu einem langen Pferdeschwanz zusammengebunden.
Lara Antonowa war jedoch nicht zum Skifahren gekommen. Geboren in Sibirien und aufgewachsen in einem staatlichen Erziehungsheim, hatte sie sich beim Direktorat S des russischen Geheimdiensts FSB zu einer hochkarätigen Agentin emporgearbeitet. Das Direktorat S
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