Gevatter Tod
genießen das Privileg – persönlicher Aufmerksamkeit.«
»Ich bin sie«, sagte Mort.
»Sie?«
»Die persönliche Aufmerksamkeit. Tod hat mich geschickt. Ich arbeite für ihn. Kein anderer Lehrmeister wollte mich.« Mort zögerte. Alles ging schief. Er stellte sich vor, wie ihn der erboste Knochenmann aus seinen Diensten entließ. Zum erstenmal trug er Verantwortung – und wurde ihr nicht annähernd gerecht. Tod würde ihn bestimmt nach Hause schicken.
Mort glaubte bereits zu hören, wie man ihn auslachte.
Seine Verlegenheit formte einen Trichter, aus dem ein nebelhornartiges Heulen ertönte. »Dies ist mein erster richtiger Auftrag, und ich ruiniere alles.«
Die Sense fiel mit einem leisen Klappern zu Boden, hackte ein Stück vom Tischbein ab und schnitt eine Fliese fein säuberlich in zwei Teile.
Die Hexe neigte den Kopf zur Seite und beobachtete Mort eine Zeitlang. »Ich verstehe«, sagte sie schließlich. »Wie heißt du, junger Mann?«
»Mort«, schniefte Mort. »Das ist eine Abkürzung für Mortimer.«
»Nun, Mort, ich nehme an, du hast eine Lebensuhr dabei, nicht wahr?«
Der Junge nickte kummervoll, tastete nach seinem Gürtel und holte den kleinen gläsernen Behälter hervor. Ammelin Kniesehne betrachtete ihn kritisch.
»Noch eine Minute, vielleicht auch ein paar Sekunden mehr«, stellte sie fest. »Mit anderen Worten: Die Zeit drängt. Ich schließe nur rasch ab.«
»Begreifst du denn nicht?« schluchzte Mort. »Ich habe alles durcheinandergebracht. Ich bin neu in diesem Job!«
Die Hexe klopfte ihm auf die Hand. »In diesem Zusammenhang fehlt es auch mir an Erfahrung«, erwiderte sie tröstend. »Wir können gemeinsam lernen. Heb jetzt die Sense auf und benimm dich wie ein großer Junge. Ja, so ist es recht.«
Sie achtete nicht auf Morts Einwände, schob ihn nach draußen und zog die Tür zu. Energisch drehte sie einen großen eisernen Schlüssel und hängte ihn an den Haken neben der Pforte.
Der Frost hatte seine Faust um den Wald geschlossen, drückte so fest zu, daß die Wurzeln knackten. Der Mond neigte sich dem Horizont entgegen, doch der Himmel war voller Sterne, wodurch der Winter noch kälter anmutete. Ammelin Kniesehne schauderte.
»Dort drüben liegt ein alter Baumstamm«, sagte sie im Plauderton. »Von jener Stelle aus kann man das Tal sehen. Ein hübscher Anblick. Im Sommer. Ich schlage vor, wir setzen uns.«
Mort stützte die alte Frau und strich möglichst viel Schnee von der geforenen Rinde. Sie nahmen Platz, und Tods Lehrling stellte vorsichtig die Lebensuhr ab. Er wußte nicht, welchen Ausblick dieser Ort im Sommer bot: Derzeit sah er nur dunkle Felsen vor einem Himmel, von dem es weiß herabrieselte.
»Ich bin völlig verwirrt«, gestand Mort ein. »Ich meine, du klingst so, als möchtest du sterben.«
»Nun, es gibt einige Dinge, die ich vermissen werde«, antwortete die Hexe. »Weißt du, irgendwann wird das Leben langweilig. Auf den eigenen Körper ist kein Verlaß mehr, und man sehnt sich nach Abwechselung. Ich schätze, es wird Zeit, daß ich einen neuen Anfang mache. In der anderen Welt.« Sie dachte kurz nach. »Hat dir Tod gesagt, daß ihn magische Leute ganz deutlich sehen können?«
»Nein«, log Mort.
»Nun, für uns ist er nicht unsichtbar.«
»Er hält nicht viel von Zauberern und Hexen«, murmelte Mort.
»Niemand mag Klugscheißer«, erwiderte Ammelin Kniesehne zufrieden. »Weißt du, manchmal bringen wir ihn in Schwierigkeiten. Priester bereiten ihm keine Probleme, und deshalb findet er sie sympathisch.«
»Davon hat er mir nie etwas gesagt.«
»Tja, Geistliche preisen dauernd das Leben nach dem Tode. Wohingegen wir Magier häufig darauf hinweisen, wie angenehm das Leben in dieser Welt sein könnte. Wenn man sich den Problemen stellt und sie löst, anstatt sein Heil in religiöser Erleuchtung zu suchen.«
Mort zögerte. Er wollte sagen: Du irrst dich; Tod ist ganz anders; er kümmert sich nicht darum, ob die Leute gut oder schlecht sind; er legt nur Wert auf Pünktlichkeit; und er mag Katzen.
Aber er blieb stumm und glaubte zu verstehen, daß die Menschen etwas brauchten, woran sie glauben konnten.
Erneut heulte ein Wolf, diesmal so nahe, daß sich Mort besorgt umsah. Ein zweiter auf der anderen Seite des Tals antwortete. Einige andere im Wald stimmten mit ein. Mort hatte noch nie zuvor ein derartiges Klagen vernommen.
Er drehte den Kopf, starrte die Hexe an und blickte erschrocken auf die Lebensuhr hinab. Eine Sekunde später sprang er auf,
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