Gevatter Tod
und legte sie dem Pferd auf den Rücken. Binky schnaubte würdevoll.
Mort trat durch die Hintertür ein und lauschte besorgt. Alles blieb still; er vernahm nicht das geringste Geräusch. Auf leisen Sohlen schlich er zur Bibliothek, in der die Luft selbst des Nachts aus heißem trockenen Staub zu bestehen schien. Es dauerte einige subjektive Jahre, bis er Prinzessin Kelis Biographie fand. Es handelte sich um ein deprimierend dünnes Buch, und das entsprechende Regal ließ sich nur mit Hilfe der Leiter erreichen, einer wackligen Vorrichtung, die frappierende Ähnlichkeit mit einem frühen Belagerungsapparat aufwies.
Mort blätterte mit zitternden Fingern, starrte auf die letzte Seite und stöhnte.
»Die Prinzessin wurde im Alter von fünfzehn Jahren ermordet«, las er. »Ihr Tod hatte die Vereinigung von Sto Lat und Sto Helit zur Folge, führte indirekt zum Ende der Stadtstaaten in den Großen Ebenen und ermöglichte die Entstehung…«
.Morts Blick huschte wie ein eigenständiges Wesen über die Zeilen, und gelegentlich entrang sich seiner Kehle ein leises Ächzen.
Nach einer Weile ließ er das Buch sinken, zögerte und schob es ins Regal zurück. Er spürte es noch immer, als er die Leiter hinunterkletterte – allein die Existenz jenes Bandes kam einer Anklage gleich.
Auf der Scheibenwelt verkehrten nur wenige Hochseeschiffe: Die meisten Kapitäne zogen es vor, die Küste im Auge zu behalten. Dafür gibt es folgende Erklärung: Wenn Schiffe in der Ferne den Eindruck erwecken, über den Rand der Welt zu rutschen, so verschwinden sie keineswegs hinter dem Horizont, sondern rutschen wirklich über den Rand der Welt.
In jeder Generation gab es einige tatendurstige Entdecker, die an dieser traurigen Tatsache zweifelten und aufbrachen, um das Gegenteil zu beweisen. Seltsamerweise kehrten sie nie zurück und bekamen dadurch keine Gelegenheit, die Ergebnisse ihrer Forschungen einem breiten Publikum zugänglich zu machen.
Deshalb muß diese Analogie für Mort bedeutungslos bleiben:
Er hatte das Gefühl, als sei er gerade mit der Titanic untergegangen – um unmittelbar darauf von der Lusitania gerettet zu werden.
Er hatte das Gefühl, als habe er in einem Anflug fataler Fröhlichkeit einen Schneeball geworfen – um dann zu beobachten, wie die daraus entstehende Lawine drei Wintersportorte unter sich begrub.
Er hatte das Gefühl, daß die Geschichte aus den Fugen geriet.
Er hatte das Gefühl, dringend mit jemandem sprechen zu müssen.
Dafür kamen nur Albert oder Ysabell in Frage, denn die Vorstellung, alles zwei leeren Augenhöhlen zu erklären, in denen zwei kleine blaue Sterne leuchteten, erschien ihm gerade nach der vergangenen Nacht wenig verlockend. Was Ysabell betraf: Wenn sie sich dazu herabließ, in seine Richtung zu blicken (was selten genug geschah), gab sie deutlich zu verstehen, daß ihrer Meinung nach der einzige Unterschied zwischen Mort und einer toten Kröte in der Farbe bestand. Und Albert…
Nun, er war zwar nicht der beste denkbare Beichtvater, aber wenn sich die Auswahl auf eine Person beschränkte, nahm er eine Vorrangstellung ein.
Mort wandte sich von der Leiter ab und wanderte müde an den endlosen Regalen entlang. Erst ein paar Stunden Schlaf, und anschließend die bittere Wirklichkeit.
Plötzlich hörte er ein gedämpftes Keuchen, gefolgt von hastigen Schritten. Irgendwo fiel eine Tür ins Schloß. Mort spähte vorsichtig um die Ecke und war fast enttäuscht, als er nur einen Stuhl sah, auf dem einige Bücher lagen. Er griff nach einem Band, las den Namen, überflog einige Zeilen und bemerkte, daß jemand ein tränenfeuchtes Spitzentaschentuch zurückgelassen hatte.
Mort stand spät auf, eilte in die Küche und rechnete damit, eine vorwurfsvolle bleierne Stimme zu hören. Seine Trommelfelle warteten umsonst.
Albert stand an der steinernen Spüle, blickte nachdenklich auf die Fritteuse und überlegte vermutlich, ob es Zeit wurde, das Öl zu wechseln. Er entschied schließlich, noch ein Jahr damit zu warten.
Der alte Mann drehte sich um, als Mort am Tisch Platz nahm.
»Eine lange Nacht, nicht wahr?« fragte er. »Wie ich hörte, hast du dich bis heute morgen in der Welt der Sterblichen herumgetrieben. Möchtest du ein Ei? Ich hab auch Haferbrei für dich.«
»Das Ei genügt«, sagte Mort hastig. Er hatte nie den Mut aufgebracht, Alberts Haferbrei zu probieren. Die graubraune Masse wirkte seltsam lebendig und verschlang Löffel.
»Nach dem Frühstück erwartet dich unser
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