Gevatter Tod
KANN JEDERZEIT NÜCHTERN WERDEN. WARUM SIND MENSCHEN GERN BETRUNKEN? MACHT ESCH IHNEN SPASS?
»Es hilft ihnen, das Auf und Ab des Lebens zu vergessen, alter Knabe. Insbesondere das Ab. Nun, lehn dich einfach an die Wand. Ich öffne nur rasch die Tür.«
SCHIE WOLLEN IHR LEBEN VERGESSEN? HA. HA.
»Du bist mir jederzeit willkommen, hörst du?«
DU WÜRDESCHT DICH WIRKLICH FREUEN, WENN ICH DICH NOCH EINMAL BESCHUCHE?
Der Wirt betrachtete den Münzstapel auf der Theke – seiner Ansicht nach war eine solche Zeche durchaus die eine oder andere Überstunde wert. Außerdem schien der Fremde recht harmlos gutmütig zu sein.
»Selbstverständlich«, erwiderte er, führte die hochgewachsene Gestalt nach draußen und nahm ihr mit einer geübten Bewegung die Flasche ab. »An meiner Theke ist immer ein Platz für dich frei.«
DAS SIND DIE NETTESTEN WORTE, DIE ICH JEMALS…
Die Tür fiel ins Schloß und verschluckte den Rest des Satzes.
Ysabell setzte sich in ihrem Bett auf.
Erneut das Klopfen, leise und drängend. Sie zog die Decke bis zum Kinn hoch.
»Wer ist da?« flüsterte sie.
»Ich bin's, Mort«, antwortete eine gedämpfte Stimme. »Mach auf, bitte!«
»Warte!«
Ysabell beugte sich rasch zum Nachtschränkchen vor, tastete nach den Streichhölzern, kippte dabei ein Fläschchen Duftwasser um und stieß eine Schachtel Schokoladenplätzchen beiseite, die nur noch leeres Papier enthielt. Einige Sekunden später rückte sie die angezündete Kerze etwas näher heran und zupfte den Ausschnitt ihres Nachthemds zurecht, um eine möglichst große Wirkung zu erzielen. »Es ist nicht abgeschlossen.«
Mort wankte ins Zimmer, roch nach Pferd, Rauhreif und Knieweich.
»Ich hoffe, daß du nicht hier eindringst, um meine Hilflosigkeit auszunutzen«, sagte das Mädchen schelmisch.
Mort sah sich erstaunt um. Ganz offensichtlich hatte Ysabell eine Vorliebe für Rüschen. Selbst die Frisierkommode erweckte den Eindruck, einen Unterrock zu tragen. Die Kammer war nicht so sehr eingerichtet, sondern eher bekleidet.
»Für solchen Unsinn habe ich keine Zeit« sagte Mort. »Nimm die Kerze! Begleite mich in die Bibliothek! Und zieh dir um Himmels willen etwas anderes an! Du platzt ja aus allen Nähten.«
Ysabell sah an sich hinab und hob ruckartig den Kopf.
»Unerhört!«
Mort stand bereits wieder im Flur. »Es geht um Leben und Tod«, verkündete er bedeutungsvoll und trat zur Seite.
Ysabell beobachtete, wie die Tür hinter ihm zuschwang. An der Rückseite hing ein blauer, mit Troddeln verzierter Morgenmantel, den ihr Tod am vergangenen Jahreswechsel geschenkt hatte. Sie verabscheute das Ding: Es war eine Nummer zu klein, und außerdem zeigte sich an der einen Tasche die Rüschendarstellung eines Kaninchens. Trotzdem brachte sie nicht den Mut auf, den Umhang einfach wegzuwerfen – selbst Tod verdiente es, daß man auf seine Gefühle Rücksicht nahm.
Das Mädchen dachte eine Zeitlang nach, seufzte, stand auf und streifte das gräßliche Kleidungsstück über. Dann schlenderte es in den Korridor. Mort wartete ungeduldig.
»Mein Vater könnte uns hören«, sagte Ysabell.
»Er ist noch nicht zurück. Komm!«
»Woher willst du das wissen?«
»Wenn er sich hier aufhält, herrscht im Haus eine andere Atmosphäre. Es ist wie – wie der Unterschied zwischen einem Mantel, der getragen wird oder am Haken hängt. Hast du das noch nie bemerkt?«
»Welche wichtige Aufgabe erwartet uns?«
Mort schob die Pforte der Bibliothek auf. Warme, trockene Luft wehte ihm entgegen, und die Angeln stimmten ein protestierendes Quietschen an.
»Wir müssen jemandem das Leben retten«, antwortete er. »Einer Prinzessin, wenn du's genau wissen willst.«
Ysabell war sofort fasziniert.
»Geht es um eine richtige Prinzessin? Ich meine, kann sie eine Erbse durch zwölf Matratzen spüren?«
»Ob sie…«, begann Mort. Erinnerte Verwirrung wich plötzlichem Verstehen. »Oh. Ja. Ich wußte doch, daß Albert irgend etwas durcheinandergebracht hat.«
»Liebst du sie?«
Mort blieb jäh zwischen den Regalen stehen und lauschte dem emsigen Kratzen zwischen den einzelnen Buchrücken.
»In diesem Zusammenhang fällt es mir sehr schwer, sicher zu sein«, entgegnete er vorsichtig. »Sehe ich so aus?«
»Du wirkst ein wenig nervös. Welche Gefühle bringt sie dir entgegen?«
»Keine Ahnung.«
»Ah«, sagte Ysabell im wissenden Tonfall einer Expertin. »Unerwiderte Liebe ist besonders schlimm. Aber wahrscheinlich wäre es keine gute Idee, Gift zu nehmen
Weitere Kostenlose Bücher