Gevatter Tod
wallten.
»Völlig aussichtslos«, brummte Mort schließlich. »Hier sind Millionen von Biographien verstaut. Die Chance, allein durch Zufall die richtige zu finden…«
Ysabell preßte ihm die Hand auf den Mund.
»Horch!«
Mort murmelte etwas Unverständliches durch ihre Finger und schwieg, als er begriff, was sie meinte. Er spitzte die Ohren und versuchte, etwas anderes zu hören als nur das dumpfe Zischen absoluter Stille.
Dann vernahm er es: ein leises beständiges Kratzen. Weit, weit über ihnen, irgendwo in der undurchdringlichen Dunkelheit eines hohen Gebirges aus Büchern, wurde noch immer ein Leben geschrieben.
Die beiden jungen Leute rissen die Augen auf und sahen sich an. Nach einigen Sekunden sagte Ysabell: »Auf dem Weg hierher sind wir an einer Leiter mit kleinen Rädern vorbeigekommen.«
Winzige Rollen quietschten, als Mort die Leiter heranschob. Das obere Ende bewegte sich ebenfalls, schwang an ächzenden Metallgelenken hin und her.
»In Ordnung«, sagte er. »Gib mir die Kerze, damit ich…«
»Ich bin fest entschlossen, die Kerze nach oben zu begleiten«, verkündete Ysabell. »Bleib du hier unten und rück die Leiter zurecht, wenn ich es dir sage. Und keine Widerrede.«
»Dort oben könnte es gefährlich werden«, erwiderte Mort galant.
»Es mag auch gefährlich sein, hier unten zu bleiben«, entgegnete Ysabell. »Und deshalb steige ich mit der Kerze die Leiter hoch, klar?«
Sie setzte den Fuß auf die erste Sprosse, und schon nach kurzer Zeit war sie kaum mehr als ein rüschiger Schemen, umhüllt von flackerndem Kerzenschein, der allmählich verblaßte.
Mort hielt die Leiter fest und versuchte, nicht an die vielen Leben zu denken, deren Gegenwart einen zunehmenden Druck auf ihn ausübte. Gelegentlich fiel ein Meteor aus heißem Wachs auf den Boden und bildete einen kleinen Krater im Staub. Ysabell verwandelte sich in einen matten Fleck weit oben, und wenn sie sich bewegte, erzitterte die ganze Leiter.
Nach einer Weile hielt sie inne. Stunden schienen zu verstreichen.
Dann klang ihre Stimme zu Mort herab, gedämpft vom Filter der Stille.
»Ich habe die Biographie gefunden, Mort.«
»Gut. Bring sie herunter.«
»Du hattest recht, Mort.«
»Freut mich. Kehr nun mit dem Buch zurück!«
»Es fragt sich nur, mit welchem, Mort.«
»Verlier keine Zeit. Die Kerze hält nicht ewig.«
»Mort!«
»Ja?«
»Alberts Leben beansprucht ein ganzes Regal, Mort!«
Der Morgen begann, jener Teil des Tages, der niemandem gehörte – abgesehen den Möwen, die über den Docks von Morpork segelten, der Flut, die langsam stromaufwärts rollte, und einem warmen drehwärtigen Wind, der den vielfältigen Geruchsmustern der Stadt eine Prise Frühlingsduft hinzufügte.
Tod saß auf einem Poller und blickte in Richtung Meer. Er beschloß, nicht mehr betrunken zu sein – die Kopfschmerzen störten ihn.
Er hatte es mit Angeln, Tanzen, Spielen (mit Würfeln) und Trinken versucht, angeblich den vier größten Freuden des Lebens, aber er verstand noch immer nicht ganz, warum Menschen solchen Gefallen daran fanden. Mit dem Essen war soweit alles in Ordnung – Tod wußte eine gute Mahlzeit zu schätzen. Andere Vergnügen des Fleisches fielen ihm nicht ein. Genauer gesagt: Seine Vorstellungskraft unterlag in dieser Hinsicht keinen Beschränkungen, aber die einzelnen Punkte auf der entsprechenden Liste erforderten eine, nun, fleischliche Präsenz, die in seinem Fall gewisse körperliche Umstrukturierungen verlangte. Und er brachte nicht die Bereitschaft mit, solche Zugeständnisse zu erwägen. Außerdem ließen Menschen von solchen Dingen ab, wenn sie älter wurden, woraus er den Schluß zog, daß sie nicht besonders attraktiv und erstrebenswert sein konnten.
Tod gewann allmählich den Eindruck, daß ihm die menschliche Natur zeit seines Lebens ein Rätsel bleiben mußte.
Das Kopfsteinpflaster dampfte im hellen Sonnenschein, und Tod spürte jenes besondere Frühlingsprickeln, das in einem Wald tausend Tonnen Saft durch zwanzig Meter Holz schicken kann.
Die Möwen krächzten und drehten fröhliche Kreise. Eine einäugige Katze – sie hatte gerade ihr achtes Leben begonnen und nur ein Ohr behalten – kroch unter einigen leeren Fischkisten hervor, gähnte hingebungsvoll und rieb sich an den Beinen des Knochenmanns. Der sanfte Wind wehte den berühmt-berüchtigten Gestank von Ankh-Morpork fort, trug die Aromen von Gewürzen und frischgebackenem Brot herbei.
Tod trachtete ebenso verwirrt wie vergeblich
Weitere Kostenlose Bücher