Gevatter Tod
so etwas bewerkstelligen. Nein, Mort, es ist aussichtslos. Vergiß die Sache. Ganz gleich, was du auch immer versuchst: Du kannst den Geleisen der Geschichte keine neue Richtung aufzwingen.«
Auf der Scheibenwelt gab es keine Eisenbahn. Andernfalls hätte Mort vielleicht schlagfertig geantwortet: ›Aber es ist möglich, in irgendeinem Bahnhof umzusteigen.‹
Ysabell kehrte ein wenig außer Atem zurück und trug das letzte Buch von Alberts Leben. Der alte Mann schniefte erneut. Der winzige Tropfen an seiner Nasenspitze faszinierte Mort. Ständig erweckte er den Eindruck, als könne er herunterfallen, doch brachte er nie den Mut dazu auf. In dieser Hinsicht ähnelte er dem ehemaligen Zauberer.
»Mit dem Buch kannst du mir nichts anhaben«, sagte Albert mißtrauisch.
»Oh, es soll dir keineswegs noch einmal auf den Kopf fallen«, erwiderte Mort. »Weißt du, ich vermute nur, daß man kein mächtiger Magier wird, indem man immer die Wahrheit sagt. Lies vor, Ysabell!«
»›Albert sah ihn unsicher an…‹«, begann das Mädchen.
»Du kannst unmöglich alles glauben, was dort geschrieben steht…«
»›… platzte es aus ihm heraus, obgleich er tief in seinem steinernen Herzen wußte, daß die Biographien aus Tods Bibliothek nie logen‹«, las Ysabell.
»Sei endlich still!«
»›… rief er und kämpfte gegen die Erkenntnis an, daß sich die Realität zwar nicht aufhalten, aber zumindest ein wenig verlangsamen ließ.‹«
WIE?
»›… fragte Mort im bleiernen Tonfall Gevatter Tods‹«, begann Ysabell pflichtbewußt.
»Ja, ja, schon gut«, sagte Mort verärgert. »Verlier keine Zeit mit meinen Stellen.«
»Oh, entschuldige bitte. Ich bin nur eine einfache Sterbliche. Verschon mein armseliges Leben.«
KEIN LEBENDER WIRD VERSCHONT. JEDER KOMMT EINMAL AN DIE REIHE.
»Und sprich nicht so mit mir!« fügte Ysabell hinzu. » Mir jagst du damit keinen Schrecken ein.« Sie blickte wieder aufs Buch und stellte fest, daß die übers Papier kriechenden Worte etwas anderes behaupteten.
»Sag mir wie, Zauberer!« knurrte Mort.
»Aber mir ist doch nur meine Magie geblieben!« jammerte Albert.
»Du brauchst sie jetzt nicht mehr, du alter Geizkragen.«
»Ich fürchte mich nicht vor dir, Junge…«
SIEH MICH AN UND WIEDERHOL DAS.
Mort schnippte herrisch mit den Fingern, und Ysabell beugte sich einmal mehr übers Buch.
»›Albert blickte in den blauen Glanz der Augen, und sein Widerstandswille schmolz wie Schnee in der Sonne‹«, las sie. »›Er sah nicht nur den Tod, sondern einen Tod, der die Suppe seines Wesens mit menschlichen Gewürzen wie Rache, Grausamkeit, Abscheu und Wut kochte. Albert begriff mit einer alle Zweifel ausschließenden Gewißheit, daß dies seine letzte Chance war. Mort würde ihn in die wirkliche Zeit zurückschicken, ihn jagen und dafür sorgen, daß er in den Kerkerdimensionen endete, wo die Geschöpfe des Grauens seine Seele Punkt Punkt Punkt.‹« Ysabell sah auf. »Auf der nächsten halben Seite stehen nur Punkte.«
»Weil nicht einmal das Buch wagt, solche Dinge zu erwähnen«, hauchte Albert. Er versuchte, die Augen zuzukneifen, aber die Dunkelheit hinter den Lidern erschien ihm so gespenstisch, daß er sie rasch wieder öffnete. Selbst der Anblick Morts war ihm lieber.
»Na schön«, sagte er. »Es gibt eine Zauberformel, mit der man in einem begrenzten Bereich die Zeit verlangsamen kann. Ich schreibe sie auf. Aber du mußt einen Magier finden, der sie laut ausspricht.«
»Das dürfte nicht weiter schwer sein.«
Albert befeuchtete sich die spröden und trockenen Lippen mit schwammiger Zunge.
»Ich stelle allerdings eine Bedingung. Zuerst mußt du die PFLICHT wahrnehmen.«
»Ysabell?« fragte Mort. Das Mädchen starrte erneut auf den dicken Band hinab.
»Er meint es ernst«, bestätigte es. »Du mußt Tod vertreten. Wenn nicht, läuft alles quer, und in dem Fall bliebe Albert ohnehin nichts anderes übrig, als in die Wirkliche Zeit zurückzukehren.«
Bei den letzten Worten drehten sie sich alle um und richteten ihre Blicke auf die große Standuhr im Flur. Ihr langes Pendel sägte langsam durch die Luft und zerschnitt eine unechte Zeit in kleine Stücke.
Mort stöhnte.
»Es ist schon zu spät!« ächzte er. »Vielleicht kann ich mich um eine der beiden Personen kümmern, die heute nacht sterben sollen. Aber die andere…«
»Unser Herr hätte die PFLICHT problemlos erfüllt«, bemerkte Albert.
Mort zerrte die Klinge aus dem Türpfosten und schwang sie ungelenk hin und
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