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Gewäsch und Gewimmel - Roman

Gewäsch und Gewimmel - Roman

Titel: Gewäsch und Gewimmel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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schneidet und schon ganz zugepflasterte Finger hat, den riesigen Sonnentag über dem Kontinent zu ihrem kleinen Tageslauf aus eigener Kraft zurechtstutzen. Sie weiß, daß es aber anders ist: Ihr Sohn, der tote Zwilling, spielte Billard. »Passioniert« nannte er es, wenn sie ihm zusah dabei. Jetzt fühlt sie sich selbst kugelrund von der einen Station des Tagesgeschehens zur nächsten prallen, angestoßen beim Aufwachen, zick und zack, bis abends im Bett wieder Stillstand herrscht.
    Noch was: Sie hat schon ein paarmal in den Jahren, wenn sie am Fenster nach draußen horcht, erlebt, wie das Kindliche aus den Kinderstimmen in der Nachbarschaft schwindet, von einem Frühjahr zum nächsten. Sie haben ihre Süße für immer verloren. Die Halbstarken wiehern mittlerweile wie ihre damals virilen Väter.
    Sie stellt auch in letzter Zeit fest, daß sie in Vorfreude auf einen Besuch, manche Sätze, die sie dann unbedingt sagen will, zur Probe vor sich hinspricht. Zu oft. Wenn es nämlich schließlich darauf ankommt, weiß sie nicht, ob sie den Satz schon in Gegenwart des Menschen ausgesprochen hat oder nicht. Sie hört ihn ja dauernd als Echo. Und weiter: Von circa 15 Uhr bis 17 Uhr, wenn ihr das Knie weh tut, kann sie häufig nur immer einen einzigen Satz denken, so eisern rasselt er ihr im Kopf herum. Dann, von 17 Uhr bis zur Tagesschau, wenn der Nacken schmerzt, fliegen ihr gleich tausend Gedanken in alle Richtungen davon, an die sich später nicht erinnern kann.
    Herr Fritzle traf am letzten Dienstag die verängstigte Frau auf der Straße und rettete sie. Sie hatte sich in der Nähe ihrer Wohnung ein bißchen verirrt und gefürchtet, ihr Haus wäre in eine andere Gegend versetzt worden. Als er sie ritterlich am Arm unterfaßte, lachte sie sofort beschämt über ihre Kopflosigkeit. O ja, das Beschämte in ihrem Lachen hörte er sehr wohl, und erzählte ihr, um sie zu trösten, erst in der letzten Woche habe er in einer Bahnhofsunterführung, wo er sich manchmal extra dem Ansturm der so schnell und wie sinnlos bewegten Passantenströme aussetze, einen riesigen Strauß Gladiolen stehen sehen, sich natürlich darüber gewundert, dann aber entdeckt, daß es sich um einen Bauarbeiter in seiner roten Signaljacke handelte: »Da sehen Sie, Frau Fendel. Und doch bin ich einmal maßgeblich im Ratzeburger Goldachter gefahren! Und hören Sie meine Stimme. Ich kann nur noch poltern oder fisteln. Modulationen schaffe ich nicht mehr.«
    Er hätte sie gern zum Lachen gebracht, indem er ihr verriet, wie ihr Sohn damals zum Schachspielen mit Fritzle und dessen Freunden, deren Gesichter von Mal zu Mal weniger plastisch und dafür allerfeinst grafisch wurden, wahrhaftig als Gastgeschenk eine Packung tiefgefrorener Fischstäbchen mitgebracht hatte. Aber was wäre, wenn die Idee von ihr, Frau Fendel, stammte?
    Frau Fendel lächelte jetzt auch sowieso vor sich hin, nicht über Herrn Fritzle, lächelte ihn auch nicht an, lächelte vielmehr, weil ihr, vom Himmel geschickt, in diesem Moment einfiel, wie überaus zärtlich vor vielen Jahren die damals noch zukünftige, jetzt so fremd gewordene Schwiegertochter ihren inzwischen verstorbenen Sohn zwischen den Regalen eines Supermarkts einmal ganz kurz, mit einer Tube Waschrei in der Hand, angesehen und damit ihr, Frau Fendel, so sehr das Herz erwärmt hatte. Es war zu der Zeit gewesen, als ihr noch der treue Postbote die Briefe an der Wohnungstür in den Spalt mit der Metallklappe steckte und das kleine, dumpfe Geräusch sie immer an das der Meisen erinnerte, wenn sie zum Füttern der Jungen durch das Kastenloch schlüpften, damals, als der alte Apfelbaum noch vor ihrem Fenster nach hinten raus stand.
    Dabei war ihr gerade heute nicht gelungen, in der Messerschleiferin an der Wohnungstür nicht eine Person zu fürchten, die ihr am liebsten, dem Eiswüstenblick nach, den Kopf mit den vielen schönen Heiligenlegenden darinnen abschneiden würde. »Ich bin doch ganz allein. Was soll ich da noch Messer schärfen?« hatte sie nur, um die kräftige Frau zu besänftigen, leise gesagt und abgewehrt.
Soundso
    An diesem Tag fuhren Detlef (v) Herzer nach Paris und Herr Fritzle in das Dörfchen Seth in Schleswig-Holstein, und manch einer ging hierhin und wiederum ein anderer dorthin. In einer Zeitung war u. a. der Tod
    einer 75jährigen Köchin,
    einer 91jährigen Schneiderin,
    einer 77jährigen Pelznäherin,
    eines 90jährigen Leitermachers und
    eines 99jährigen Cellisten
    angezeigt. Außerdem war ein Angebot

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