Gewäsch und Gewimmel - Roman
uns, daß die Welt völlig anders sein kann, alswir eben noch dachten. Schon erscheint das erste Licht auf den Birkenstämmen, bleich, wie auf den weißen Pferdeleibern, die man hier oft sieht. Ich würde die Gegend mit verbundenen Augen am Geruch erkennen, gemischt aus den besten Wald- und Heidegewürzen. Sofort hätte ich nämlich vor mir die Stämme, die aus den Tümpeln ragen, und die abgestorbenen Bäume in ihrer Schiefe, wenn sie in die Brombeergebüsche kippen. Ja, gerade probiere ich es wieder. Augen geschlossen, Luft tief, tief eingeatmet. Es ist doch eigentlich das Glück.
Aber vielleicht nur deshalb, weil ich an Herrn Hans denken muß, wenn ich durchs Gestrüpp stapfe? Fehlt er mir? Nein, hier nicht. Er ist ja da, für mich immer noch. Noch immer nach wie vor, wie früher und einstmals da und um mich herum.
An diesem zweiten Abend im Tristanweg 8 sollten sie alle irgendwas aus einer selbst erlebten Liebesgeschichte erzählen. Ich sah sofort, als ich das hörte, Sabine an. Ob das gutgehen würde?
Ilona, Hehes Freundin mit dem sanften slawischen Gesicht, die früher einmal Verkäuferin in einer Bäckerei, auch Fußpflegerin und was nicht alles war, machte den Anfang: »Woran merkt man absolut sicher den Blitzeinschlag? Ganz einfach: Es ist das Gefühl, man würde den ganzen Tag mit Metallabsätzen oder genagelten Schuhen auf hartem Pflaster gehen!« Daraufhin brach Hehe, der Gemütsmensch, in sein donnerndes Gelächter aus. Es erstaunte mich, wie Herr Hans, unsere Sonne und unser Mondlicht, nun seinerseits andächtig den Metzger betrachtete und sich an dessen Erheiterung gar nicht sattsehen konnte. Ich wiederum, das war ja nur natürlich, sättigte mich aus meinem Winkel heraus am Anblick von meinem Herrn Scheffer.
Gut, daß ich nicht mitspielte und gefragt wurde. Denn hätte ich irgendeinem Menschen von meinem Zittern erzählen dürfen, meinem Zittern von damals, am ersten Abend, bis in die Nacht hinein, nach der schönen Musik, nach dem italienischen Gesang? Obschon, wenn man darauf bestanden hätte, wäre meinallererstes Verliebtsein zu erzählen gewesen, das auf der Nordseeinsel. Man brach den Aufenthalt ja ab, hat mir jungem Kind die Liebe abgebrochen von einem Tag auf den anderen. In alle Richtungen schickte man uns zu den Eltern zurück. Schuld daran war die Währungsreform, die Unsicherheit des neuen Geldes, der völlig veränderten Kosten wegen.
Ilona, die ein feurig rotes, allerdings sehr kurzes Kleid trug, bei dem eine Schulter nackt und die andere von einer riesigen Schleife besetzt war, als hätte sie sich schon ahnungsvoll für ihre festlichen Auskünfte über die Leidenschaft gekleidet, fügte noch hinzu: »Und wenn man einen Raum mit Leuten betritt, und der, den man meint, spürt es mit dem Rücken und dreht sich sofort um, dann weiß man, daß es auch ihn gepackt hat.«
Den Rucksack habe ich heute nicht bei mir. Er ist ja nur ein geheimes Zeichen für mich, und das muß nicht jeden Tag gegeben werden. Aber die kleinen Tümpel, ganz und halb und gar nicht gefroren, die sehe ich tagtäglich an. Ich kann sie umblättern, ich lese immer Neues, wenn mein Blick in die Schichten einsinkt, obschon diese Gewässer doch meist nicht tief sind. Es ist das Glück, denke ich manchmal, mit Krötenhaut und goldenen Augen, das auf dem Grund hockt, hier, im Renaturierungsgebiet von Herrn Scheffer, o doch, so nenne ich es nach wie vor, unverzagt.
Während dieses Spiels habe ich vorsichtig Sabine bewacht. Ich hatte Angst um sie. Magdalena Zock, die in einem Internat die feine Küche gelernt und das Vermögen in die Familie gebracht hat, weil ihr Vater Bierbrauer und Brauereidirektor war, kümmerte sich gerade draußen ums Essen, als ihr Mann, der noble und ritterliche Bruno Zock vom Baumarkt oder Gartencenter, ganz hektisch sagte, ich habe versucht, es mir wörtlich zu merken: »Bei solchen Blitzeinschlägen, liebe Ilona, kommt die reine Biologie zum Zuge. Und ich will Ihnen sagen, genau das ist das Leben! Aber man sollte wissen: Wer sich unter das Gesetz der purenBiologie stellt, muß auch auf deren Gnadenlosigkeit gefaßt sein. Größte Lust, größte Qual.«
Alle starrten den dürren Herrn Bruno an. Besaß er nicht vier Kinder? Das wußte doch selbst ich an diesem zweiten Abend schon.
Gerade da brachte seine Ehefrau den flambierten Nachtisch ins Zimmer. Wahrscheinlich dachte sie, die noch spürbare Verdutztheit der anderen gälte den Flammen. Sie strahlte uns an in ihrem entzückenden Irrtum. Der
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