Gewalt
nicht nach der Hautfarbe, sondern nach dem Charakter zu beurteilen, nur schwer mit rationalen Argumenten rechtfertigen. Dennoch ist niemand in verantwortlicher Position bereit, sie aufzugeben, denn allen ist klar, dass Afroamerikaner dann in beruflichen Positionen weniger stark vertreten wären und das Risiko einer neuen Polarisierung der Gesellschaft bestünde. Jedes Mal, wenn die Bevorzugung aufgrund der Rasse für illegal erklärt oder in einer Volksabstimmung abgelehnt wird, stellt man sie deshalb mit beschönigenden Begriffen wie »Fördermaßnahmen« oder »Vielfalt« wieder her, oder man schafft Umgehungstatbestände (so werden beispielsweise die besten zehn Prozent der Schüler jeder einzelnen Highschool zur Universität zugelassen und nicht die besten zehn Prozent eines ganzen Bundesstaates).
Das Bewusstsein für die Rassenproblematik setzt sich auch nach der Hochschulzulassung fort. Viele Universitäten schreiben »Sensibilitäts-Workshops« vor, in denen Studienanfänger gezwungen werden, unbewussten Rassismus einzugestehen, und noch viel mehr haben Sprachregelungen (die immer, wenn jemand sie gerichtlich anfocht, für verfassungswidrig erklärt wurden), die jede Meinungsäußerung, welche eine Minderheitengruppe beleidigen könnte, kriminalisieren. [1066] Manche Vorwürfe der »rassistischen Beleidigung« überschreiten die Grenze zur Selbstparodie: So wurde beispielsweise ein Student an einer Universität in Indiana verurteilt, weil er ein Buch über die Niederlage des Ku-Klux-Klan gelesen hatte; der Grund: Auf dem Umschlag war ein Mitglied der Vereinigung abgebildet. Und an der Brandeis University wurde ein Professor schuldig gesprochen, weil er in einer Vorlesung über den Rassismus gegen Hispanics das Wort
wetback
benutzt hatte. [1067] Banale Vorfälle von Rassen-»Unsensibilität« (darunter eine Episode aus dem Jahr 1993 , bei der ein Student der University of Pennsylvania einigen spätnachts lärmenden Personen »Ruhe, du Wasserbüffel« zugerufen hatte – in seiner hebräischen Muttersprache ein Slangausdruck für Rowdys, der hier aber als neue rassistische Beschimpfung interpretiert wurde) bringen den Universitätsbetrieb zum Erliegen und setzen quälende Rituale der gemeinschaftlichen Selbstkasteiung, Buße und moralischen Säuberung in Gang. [1068] Eine solche Heuchelei lässt sich nur damit verteidigen, dass es sich vielleicht lohnt, sie als Preis für ein historisch beispielloses Maß an rassistischen Gewohnheiten zu bezahlen (obwohl es im Wesen der Heuchelei liegt, dass man nicht einmal das behaupten kann).
In meinem Buch
Das unbeschriebene Blatt
habe ich die Ansicht vertreten, dass eine übermäßige Angst vor der Wiederkehr der rassistischen Feindseligkeiten in den Sozialwissenschaften zu einer Verzerrung geführt hat: Auf der Skala zwischen Genen und Umwelt wurde der Umwelt ein zu großes Gewicht beigemessen, und das auch bei jenen Aspekten der menschlichen Natur, die nichts mit Rassenunterschieden zu tun haben, sondern für unsere gesamte Spezies gelten. Dahinter steht eine ganz bestimmte Befürchtung: Wenn
irgendetwas
am Wesen des Menschen angeboren ist, dann könnten auch die Unterschiede zwischen Rassen oder ethnischen Gruppen angeboren sein; ist der Geist dagegen bei der Geburt ein unbeschriebenes Blatt, müssen alle Geister gleichermaßen unbeschrieben sein. Ironischerweise verrät eine solche politisch motivierte Leugnung der menschlichen Natur das stillschweigende Einverständnis mit einer besonders üblen Theorie über das Wesen des Menschen: Danach stehen Menschen ständig an der Schwelle zum Abgleiten in rassistische Animositäten, so dass man alle Ressourcen der Kultur dagegen mobilisieren muss.
Woher kommt die Revolution der Rechte?
Als ich mit den Recherchen für dieses Kapitel begann, wusste ich, dass die Jahrzehnte des Langen Friedens und des Neuen Friedens auch Jahrzehnte des Fortschritts für ethnische Minderheiten, Frauen, Kinder, Homosexuelle und Tiere waren. Aber ich hatte keine Ahnung, dass das zahlenmäßig erfassbare Ausmaß der Gewalt – Hassverbrechen und Vergewaltigungen, häusliche Gewalt und Kindesmisshandlung, selbst die Zahl der Filme, in denen die Tiere geschädigt werden – in allen Fällen nach unten gegangen ist. Wie können wir alle diese Trends zur Gewaltlosigkeit aus den letzten 50 Jahren erklären?
Die Trends haben einige gemeinsame Eigenschaften. In allen Fällen mussten sie gegen einflussreiche Neigungen der menschlichen Natur
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