Gewalt
Kontakt kommen und in eine stärker ökumenische Moral eingeführt werden, die nicht zur chauvinistischen Verehrung der Gruppe neigt, sondern das Schwergewicht auf die Rechte des Einzelnen legt.
Nach dem gleichen Prinzip wird eine offene Gesellschaft, in der Begabung, Ehrgeiz oder Glück die Menschen aus dem Stand ihrer Geburt herausreißen können, eine Autoritätsrangfolge nicht ohne weiteres als unverletzliches Naturgesetz betrachten, sondern eher als historisches Kunstprodukt oder eine Folge von Ungerechtigkeit.
Wenn ganz unterschiedliche Individuen sich vermischen, Handel betreiben und in beruflichen oder gesellschaftlichen Gruppen zusammenfinden, die gemeinsam ein übergeordnetes Ziel verfolgen, können sich ihre Vorstellungen von Reinheit verdünnen. Ein Beispiel wurde in Kapitel 7 erwähnt: Menschen, die Homosexuelle persönlich kennen, stehen der Homosexualität toleranter gegenüber. Eine interessante Beobachtung machte Haidt bei der genauen Betrachtung der geographischen Verteilung von Wahlergebnissen in den Vereinigten Staaten: Geht man von der groben Einteilung in »rote« und »blaue« Staaten zu der feineren Unterteilung in rote und blaue Kreise über, so stellt man fest, dass die blauen Kreise, in denen eine Mehrheit für den liberaleren Präsidentschaftskandidaten stimmt, gehäuft entlang der Küsten und großen Wasserstraßen liegen. Bevor es Flugzeuge und Autobahnen gab, waren das die Regionen, in denen sich Menschen und ihre Gedanken am einfachsten vermischen konnten. Dieser frühere Vorteil machte sie zu Drehscheiben für Verkehr, Handel, Medien, Forschung und Bildung, und auch heute sind sie noch pluralistische – und liberale – Gebiete. Der politische Liberalismus der Vereinigten Staaten ist zwar bei weitem nicht das Gleiche wie der klassische Liberalismus, beide überschneiden sich aber in der Gewichtung der moralischen Sphären. Die Mikrogeographie des Liberalismus legt die Vermutung nahe, dass die moralische Entwicklung weg von Gemeinschaft, Autorität und Reinheit tatsächlich eine Folge von Mobilität und Weltbürgertum ist. [1845]
Ein anderer Faktor, der das Gemeinschafts-, Autoritäts- und Reinheitsdenken untergräbt, ist das objektive Studium der Geschichte. In der Geisteshaltung des Gemeinschaftsdenkens, so Fiskes Feststellung, ist die Gruppe etwas Ewiges: Sie wird durch eine unveränderliche Wesensform zusammengehalten, und ihre Tradition reicht bis an den Anbeginn der Zeiten zurück. [1846] Auch Autoritätshierarchien werden von Natur aus als immerwährend betrachtet. Sie wurden von den Göttern verordnet oder liegen in der großen Seinskette begründet, die dem Universum seine Struktur gibt. Und beide Modelle beanspruchen für sich eine immerwährende edle Reinheit als Teil ihres Wesens.
In diesem Geflecht der Rationalisierungen ist ein realer Historiker ungefähr so willkommen wie ein Stinktier auf einer Gartenparty. Bevor Donald Brown seine Umfrage über die universellen Werte der Menschen in Angriff nahm, versuchte er zu erklären, warum die Hindus in Indien im Gegensatz zu ihrer Nachbarzivilisation in China so wenig ernsthafte historische Forschung betrieben hatten. [1847] Seine Vermutung: Die Elite einer Gesellschaft mit erblichen Kasten war wahrscheinlich der Ansicht, dass nichts Gutes daraus erwachsen konnte, wenn Wissenschaftler ihre Nase in Archive steckten und dort möglicherweise auf Anhaltspunkte stießen, die ihre Behauptung, sie stammten von Helden und Göttern ab, untergruben. Bei der Untersuchung von 25 asiatischen und europäischen Kulturkreisen stellte Brown fest, dass diejenigen, die in erbliche Klassen unterteilt waren, eine Vorliebe für Mythen, Legenden und Heiligengeschichten hatten, während Geschichtsforschung, Sozial- und Naturwissenschaft, biographische Forschung, realistische Porträtmalerei und einheitliche Bildung abgelehnt wurden. In jüngerer Zeit, im 19 . und 20 . Jahrhundert, rekrutierten die nationalistischen Bewegungen ganze Heerscharen von Schmierfinken, die getürkte Geschichten über die zeitlosen Werte und die ruhmreiche Vergangenheit ihrer Staaten schrieben. [1848] Seit den 1960 er Jahren waren viele Demokratien traumatisiert durch eine revisionistische Geschichtsschreibung, welche die oberflächlichen Wurzeln ihrer Nationen zum Vorschein brachte und ihre schäbigen Taten enthüllten. Der Niedergang von Patriotismus, Stammesdenken und Vertrauen in Hierarchien sind zum Teil das Erbe dieser neuen Geschichtsschreibung. Noch heute
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