Gewalt
nachdem ich nun Dutzende von Rückgängen, Abschaffungen und Nullen dokumentiert habe, ist meine Stimmung weniger Optimismus als vielmehr Dankbarkeit. Optimismus setzt einen Hauch von Arroganz voraus, denn er schreibt die Vergangenheit in eine unsichere Zukunft fort. Ich bin zwar zuversichtlich, dass Menschenopfer, Leibeigenschaft, Auf-das-Rad-Flechten und Kriege zwischen Demokratien in absehbarer Zukunft nicht wiederkehren werden, aber mit der Prophezeiung, das derzeitige Niveau von Verbrechen, Bürgerkriegen oder Terrorismus werde von Dauer sein, würde ich mich auf ein Terrain begeben, das nicht einmal Engel zu betreten wagen. Immerhin können wir aber sicher sein, dass viele Formen der Gewalt bis heute zurückgegangen sind, und wir können zu verstehen versuchen, warum das geschehen ist. Als Wissenschaftler muss ich allen Vorstellungen von mystischen Mächten oder einer kosmischen Bestimmung, die uns hinanzieht, skeptisch gegenüberstehen. Der Rückgang der Gewalt ist eine Folge sozialer, kultureller und materieller Bedingungen. Bleiben diese Bedingungen bestehen, wird auch die Gewalt gering bleiben oder sogar noch weiter zurückgehen. Wenn nicht, dann nicht.
In diesem letzten Kapitel möchte ich keine Voraussagen machen, und ebenso wenig möchte ich Politikern, Polizeichefs oder Friedensvermittlern Ratschläge erteilen – angesichts meiner Qualifikationen wäre das gewissenlos. Ich möchte nur versuchen, jene großen Kräfte zu benennen, die das Ausmaß der Gewalt verringert haben. Mein Thema sind die Entwicklungen, die in den historischen Kapiteln ( 2 bis 7 ) immer wieder angesprochen wurden und jene geistigen Fähigkeiten erfordern, die wir in den psychologischen Kapiteln ( 8 und 9 ) untersucht haben. Mit anderen Worten: Ich werde im Befriedungsprozess, dem Zivilisationsprozess, der Humanitären Revolution, dem Langen Frieden, dem Neuen Frieden und den Revolutionen der Rechte nach gemeinsamen roten Fäden suchen. Jeder von ihnen sollte einen Weg darstellen, auf dem räuberisches Verhalten, Dominanzstreben, Rachedurst, Sadismus oder Ideologie durch Selbstbeherrschung, Mitgefühl, Moral oder Vernunft überwunden wurden.
Man sollte nicht damit rechnen, dass alle diese Kräfte sich aus einer großen vereinheitlichten Theorie ergeben. Die rückläufigen Entwicklungen, die wir zu erklären versuchen, spielten sich in ganz unterschiedlichen Zeiträumen ab und betrafen Schäden ganz unterschiedlichen Ausmaßes: die Zähmung der chronischen Überfälle und Fehden, die Verminderung heimtückischer individueller Gewalt wie das Abschneiden von Nasen, die Beseitigung grausamer Praktiken wie Menschenopfer, Folterhinrichtungen und Auspeitschung, die Abschaffung von Institutionen wie Sklaverei und Schuldknechtschaft, die Tatsache, dass blutige Sportarten und Duelle aus der Mode kamen, die Ächtung von politischem Mord und Despotismus, der jüngst erfolgte Rückgang von Kriegen, Pogromen und Völkermord, die Verringerung der Gewalt gegen Frauen, die Entkriminalisierung der Homosexualität, der Schutz von Kindern und Tieren. Alle diese überholten Praktiken haben nur eines gemeinsam: Dem Opfer wird körperlicher Schaden zugefügt; wenn wir also überhaupt von einer letzten Theorie träumen könnten, muss dies eine Theorie aus der Sicht des Opfers sein – die, wie wir erfahren haben, auch die Perspektive des Moralisten ist. Aus wissenschaftlicher Sicht können die Täter buntscheckige Motive haben, und deshalb werden auch die Erklärungen für die Kräfte, die ihnen entgegenwirken, bunt gemischt sein.
Gleichzeitig weisen aber alle diese Entwicklungen unverkennbar in die gleiche Richtung. Die Gegenwart ist für potentielle Opfer eine gute historische Epoche. Man kann sich einen historischen Ablauf vorstellen, in dem die einzelnen Praktiken sich in ganz unterschiedlicher Richtung entwickeln: Die Sklaverei bliebe beispielsweise abgeschafft, aber Eltern entschließen sich, wieder wie wild auf ihre Kinder einzuprügeln; oder die Staaten werden gegenüber ihren Bürgern immer humaner, ziehen aber häufiger gegeneinander in den Krieg. Das alles ist nicht geschehen. Die meisten Praktiken haben sich in die Richtung von weniger Gewalt entwickelt, und es sind zu viele, als dass dies ein Zufall sein könnte.
Sicher, manche Entwicklungen sind auch andersherum verlaufen: die zerstörerischen europäischen Kriege bis hin zum Zweiten Weltkrieg (der die abnehmende Kriegshäufigkeit überschattete, bis beide Größen gleichermaßen
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