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Gewalt

Gewalt

Titel: Gewalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Pinker
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gemeinsame Sache mit den Nazis. [1941]
    Was den gottlosen Kommunismus angeht, so war er tatsächlich mit Sicherheit gottlos. Aber die Ablehnung einer illiberalen Ideologie macht nicht automatisch immun gegen eine andere. Wie Daniel Chirot beobachtete (siehe Seite 491 f.), bediente sich der Marxismus bei der schlimmsten Idee aus der christlichen Bibel, der Vorstellung von einer tausendjährigen Katastrophe, die in ein Utopia führt und die Unschuld vor dem Sündenfall wiederherstellt. Gleichzeitig lehnte er gewaltsam den Humanismus und Liberalismus der Aufklärung ab, der das Wohlergehen des Individuums zum höchsten Ziel der politischen Systeme erklärt hatte. [1942]
    Gleichzeitig arbeiteten
bestimmte
religiöse Strömungen zu bestimmten Zeiten in der Geschichte tatsächlich der Gewalt entgegen. In Regionen der Anarchie wirken religiöse Institutionen manchmal als Zivilisationskraft, und da sie vielfach in ihren Gemeinschaften einen moralischen Alleinvertretungsanspruch erheben, können sie zum Nährboden für Reflexion und moralisches Handeln werden. Die Quäker entwickelten aufklärerische Argumente gegen Sklaverei und Krieg zu effizienten Bewegungen zur Abschaffung der Sklaverei und für den Pazifismus weiter, und im 19 . Jahrhundert schlossen sich ihnen andere liberale, protestantische Konfessionen an (Kapitel 4 ). Protestantische Kirchen trugen auch dazu bei, das wilde Grenzland im Süden und Westen Nordamerikas zu zähmen (Kapitel 3 ). Afroamerikanische Kirchen steuerten organisatorische Infrastruktur und rhetorische Kraft zur Bürgerrechtsbewegung bei (wobei Martin Luther King allerdings, wie wir bereits erfahren haben, die Hauptrichtung der christlichen Theologie ablehnte und seine Inspirationen von Gandhi, der säkularen abendländischen Philosophie und abtrünnigen humanistischen Theologen bezog). In den 1990 er Jahren trugen diese Kirchen auch durch ihre Zusammenarbeit mit Polizei und Kommunalbehörden dazu bei, die Verbrechensquote in den von Afroamerikanern bewohnten Innenstädten zu senken (Kapitel 3 ). In den Entwicklungsländern taten sich Desmond Tutu und andere Kirchenführer mit Politikern und nichtstaatlichen Organisationen zu den Versöhnungsbewegungen zusammen, die in ihren Staaten nach Apartheid und inneren Unruhen wieder Frieden einkehren ließen (Kapitel 8 ).
    Der Untertitel des atheistischen Bestsellers von Christopher Hitchens,
Wie Religion die Welt vergiftet
, ist also eine Übertreibung. Religion spielt in der Geschichte der Gewalt keine einzigartige Rolle, weil Religion nirgendwo in der Geschichte jemals eine einzigartige Rolle gespielt hat. Die gewaltige Menge von Strömungen, die wir Religionen nennen, haben abgesehen von ihrem Unterschied zu säkularen Institutionen, die erst vor relativ kurzer Zeit auf der Bildfläche erschienen, kaum etwas gemeinsam. Und die Überzeugungen und Praktiken der Religionen sind allen Ansprüchen auf göttliche Herkunft zum Trotz innere Angelegenheiten der Menschen, die auf geistige und gesellschaftliche Strömungen reagieren. Bewegen sich diese Strömungen in eine aufgeklärte Richtung, passen sich die Religionen häufig an – am deutlichsten erkennt man das daran, wie die blutrünstigen Passagen des Alten Testaments heute diskret übergangen werden. Nicht überall spielte sich die Anpassung so unverhüllt ab wie in der Kirche der Mormonen: Ihren Führern wurde 1890 von Jesus Christus offenbart, dass ihre Kirche die Vielweiberei aufgeben solle (was ungefähr zu der Zeit geschah, als die Polygamie dem Beitritt Utahs zu den Vereinigten Staaten im Wege stand), und in einer zweiten Offenbarung wurde ihnen 1978 gesagt, sie sollten auch Farbige, die zuvor angeblich das Kainsmal getragen hatten, als Priester aufnehmen. Durch subtilere Anpassung, die von abgespaltenen Gruppen, Reformbewegungen, ökumenischen Konzilen und anderen liberaleren Kräften ausging, konnten aber auch die übrigen Religionen sich von der humanistischen Welle mitreißen lassen. Erst wenn fundamentalistische Kräfte sich solchen Strömungen entgegenstellen und den Menschen stammesbezogene, autoritäre und puritanische Beschränkungen auferlegen, wird Religion zu einer Kraft der Gewalt.

Das Pazifistendilemma
    Jetzt möchte ich mich von den historischen Kräften, die offenbar nicht regelmäßig zur Verminderung der Gewalt beitragen, abwenden und diejenigen betrachten, die eine solche Wirkung haben. Außerdem möchte ich diese Kräfte in eine Art Erklärungsrahmen einbetten, damit wir sie

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