Gewalt
gesellschaftlicher Kräfte, zu dem auch die Gewalt gehört. Je nach Infrastruktur und Geisteshaltung können die Menschen zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten sich entschließen, sich mit dem Positivsummen-Austausch fertiger Produkte zu beschäftigen oder in Nullsummen-Konflikte über Rohstoffe einzutreten – die in Wirklichkeit sogar Negativsummen-Konflikte sind, weil man die Kosten des Krieges vom Wert des geplünderten Materials abziehen muss. Die Vereinigten Staaten könnten in Kanada einfallen, um dort den Schifffahrtsweg zu den Großen Seen oder die kostbaren Nickelvorkommen unter ihre Kontrolle zu bringen, aber welchen Sinn hätte das, wenn sie diesen Nutzen aufgrund des Handels schon jetzt genießen können?
Wohlstand.
Die Welt ist im Laufe der Jahrhunderte immer wohlhabender geworden, und gleichzeitig wurde sie weniger gewalttätig. Werden Gesellschaften friedlicher, wenn sie reicher werden? Vielleicht führen ja die täglichen Schmerzen und Frustrationen der Armut dazu, dass die Menschen mürrischer sind und mehr haben, worum sie kämpfen können, während die Schätze einer wohlhabenden Gesellschaft ihnen mehr Anlass bieten, ihr Leben und im weiteren Sinne auch das Leben anderer höher zu schätzen.
Aber trotz alledem sind enge Zusammenhänge zwischen Wohlstand und Gewaltlosigkeit kaum zu finden, und manche Korrelationen weisen sogar in die andere Richtung. Unter den Völkern der vorstaatlichen Zeit gab es häufig gerade bei sesshaften Stämmen, die in gemäßigten Klimazonen mit reichhaltigen Fischgründen und Wildvorkommen wie dem Nordwesten Nordamerikas an der Pazifikküste lebten, Sklavenhalterei, Kasten und eine Kriegerkultur, während die materiell nur bescheiden ausgestatteten San und Semai am friedlichen Ende des Spektrums standen (Kapitel 2 ). Und gerade die prachtvollen Imperien der Antike kannten Sklaven, Kreuzigung, Gladiatoren, erbarmungslose Eroberungsfeldzüge und Menschenopfer (Kapitel 1 ).
Die Ideen, die hinter Demokratie und anderen humanitären Reformen stehen, blühten im 18 . Jahrhundert auf, der Aufschwung im materiellen Wohlergehen setzte aber erst beträchtlich später ein (Kapitel 4 ). Im Westen stieg der Wohlstand erst mit der Industriellen Revolution des 19 . Jahrhunderts, Gesundheit und Lebensdauer wuchsen Ende des 19 . Jahrhunderts mit den Umwälzungen im Bereich der Volksgesundheit. Auch kleinere Schwankungen des Wohlstandes fallen zeitlich offenbar nicht mit einem besonderen Interesse für die Menschenrechte zusammen. Es gab zwar die Vermutung, im Süden der Vereinigten Staaten sei die Zahl der Lynchmorde gestiegen, als die Baumwollpreise nach unten gingen, der überwiegende historische Trend jedoch war ein exponentieller Rückgang der Lynchmorde in der ersten Hälfte des 20 . Jahrhunderts, der sich weder in den wilden Zwanzigern noch während der Weltwirtschaftskrise abschwächte (Kapitel 7 ). Soweit sich feststellen lässt, schwankte der Nachdruck, mit dem die Revolutionen der Rechte seit Ende der 1950 er Jahre vorangetrieben wurde, nicht im Einklang mit dem Auf und Ab der wirtschaftlichen Zyklen. Ebenso sind sie keine automatische Folge des modernen Wohlstandes – das erkennt man daran, dass in einigen reichen asiatischen Staaten bis heute eine relativ hohe Toleranz gegenüber häuslicher Gewalt und der Prügelstrafe für Kinder herrscht (Kapitel 7 ).
Auch Gewaltverbrechen folgen den wirtschaftlichen Indikatoren nicht auf dem Fuße. Während des 20 . Jahrhunderts standen die Schwankungen der Mordquote in den Vereinigten Staaten zum größten Teil in keinem Zusammenhang mit dem Ausmaß des Wohlstandes: Inmitten der Weltwirtschaftskrise ging die Mordquote steil bergab, während des Booms der 1960 er Jahre stieg sie stark an, und während der großen Rezession, die 2007 begann, erreichte sie neue Tiefstände (Kapitel 3 ). Dass die Korrelation so schlecht ist, hätte man aufgrund der Polizeiakten voraussagen können: Sie zeigen, dass Morde keine materiellen Motive wie Geld oder Nahrung haben, sondern moralistische Beweggründe wie die Vergeltung von Beleidigungen und Untreue.
In einem Vergleich jedoch zeigt sich ein enger Zusammenhang zwischen Wohlstand und Gewalt: in den Unterschieden zwischen Staaten am unteren Ende der wirtschaftlichen Skala (Kapitel 6 ). Wie wir bereits erfahren haben, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass ein Staat durch gewalttätige Unruhen zerrissen wird, steil an, sobald das jährliche Pro-Kopf BIP unter 1000 US -Dollar
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