Gewalt
nicht nur wie Positionen auf einer Liste abhaken, sondern Erkenntnisse darüber gewinnen, was sie möglicherweise gemeinsam haben. Wir suchen also nach Erklärungen dafür, warum Gewalt immer eine so starke Versuchung war, warum die Menschen immer danach gestrebt haben, sie zu vermindern, warum diese Verminderung so schwierig war und welche besonderen Veränderungen sie schließlich doch herbeigeführt haben. Einen echten Erklärungswert haben solche Veränderungen nur dann, wenn sie von außen kommen: Sie sollten nicht Teil des Rückganges sein, den wir erklären wollen, sondern unabhängige Entwicklungen, die ihm vorausgegangen sind und ihn verursacht haben.
Wenn man die wechselnde Dynamik der Gewalt erklären will, besteht eine gute Methode darin, an das Mustermodell für den Nutzen der Kooperation (in diesem Fall den Verzicht auf Aggression) zu denken: das Gefangenendilemma (Kapitel 8 ). Wechseln wir jetzt einmal das Etikett und bezeichnen wir es als Pazifistendilemma. Eine Person oder ein Bündnis lässt sich vielleicht durch den Gewinn im Fall eines Sieges zu räuberischer Aggression verleiten (die Entsprechung zur Abtrünnigkeit gegenüber jemandem, der kooperiert), und mit Sicherheit soll der Nachteil der Niederlage vermieden werden, wenn ein Feind aufgrund der gleichen Versuchung handelt. Wenn aber beide sich für Aggression entscheiden, führen sie einen schädlichen Krieg (beiderseitige Abtrünnigkeit), so dass es beiden am Ende schlechter geht, als wenn sie den Lohn des Friedens (beiderseitige Kooperation) eingestrichen hätten. Das Pazifistendilemma kann man auch bildlich darstellen; die Zahlen für Gewinne und Verluste sind willkürlich gewählt, spiegeln aber die tragische Struktur des Dilemmas wider.
Abbildung 10 - 1 :
Das Pazifistendilemma
Das Pazifistendilemma ist auch mit noch so viel Phantasie kein mathematisches Modell, ich werde aber auch weiter darauf Bezug nehmen und so auf einem zweiten Weg die Gedanken verständlich machen, die ich mit Worten erklären möchte. Die Zahlen fangen die doppelte Tragödie der Gewalt ein. Der erste Teil der Tragödie besteht darin, dass es irrational ist, Pazifist zu sein, wenn die Welt diese Gewinne einstreicht. Ist der Gegner ein Pazifist, ist man versucht, seine Verletzlichkeit auszunutzen (die zehn Punkte des Sieges sind besser als die fünf Punkte des Friedens), ist er dagegen ein Aggressor, erduldet man besser die Bestrafung durch den Krieg (ein Verlust von 50 Punkten), statt sich zu unterwerfen und ihm die Ausbeutung zu gestatten (ein verheerender Verlust von 100 Punkten). So oder so ist Aggression die rationale Entscheidung.
Damit sind wir beim zweiten Teil der Tragödie: Die Kosten für ein Opfer (in diesem Fall - 100 ) stehen in keinem Verhältnis zu dem Nutzen für den Aggressor ( 10 ). Wenn zwei Kontrahenten sich nicht in einen Kampf bis zum Tode verbeißen, ist Aggression kein Nullsummen-, sondern ein Negativsummenspiel; trotz des Vorteils für den Sieger würde es beiden gemeinsam besser gehen, wenn sie es nicht tun. Der Vorteil für einen Eroberer, der ein wenig mehr Land gewinnt, wird hinweggefegt durch den Nachteil für die Familie, die er im Rahmen des Diebstahls tötet, und die wenigen Augenblicke des Triebabbaues, die ein Vergewaltiger erlebt, stehen in einem obszönen Missverhältnis zu dem Leiden, das er bei seinem Opfer verursacht. Diese Asymmetrie ist letztlich eine Folge des Entropiegesetzes: Nur ein unendlich kleiner Bruchteil aller Zustände des Universums ist so geordnet, dass sie die Voraussetzungen für Leben und Glück schaffen; zu zerstören und Elend zu verursachen, ist deshalb einfacher, als Glück zu kultivieren und herbeizuführen. Das alles bedeutet, dass selbst die kühlste utilitaristische Berechnung, mit der ein desinteressierter Beobachter die Gesamtbilanz aus Glück und Unglück aufrechnet, Gewalt als unerwünscht beurteilen wird, weil sie mehr Unglück bei den Opfern als Glück bei den Tätern schafft und damit die Gesamtmenge des Glücks in der Welt vermindert.
Wenn wir aber vom hochfliegenden Standpunkt des desinteressierten Beobachters zur irdischen Perspektive der Beteiligten herabsteigen, erkennen wir, warum Gewalt so schwer zu beseitigen ist. Jede Seite wäre verrückt, sich als Einzige für den Pazifismus zu entscheiden, denn wenn der Gegner sich dann von der Aggression in Versuchung führen lässt, wäre der Preis entsetzlich hoch. Das Problem des jeweils anderen ist die Erklärung dafür, warum der
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