Gewalt
sinkt. Die Gründe für diese Korrelation dingfest zu machen, ist jedoch schwierig. Mit Geld kann man vieles kaufen, und welches von den Dingen, die ein Land sich nicht leisten kann, für die Gewalt verantwortlich ist, liegt nicht ohne weiteres auf der Hand. Es könnte sich um den Mangel für Einzelne (zum Beispiel bei Lebensmitteln und medizinischer Versorgung) handeln, aber auch um einen Mangel im ganzen Land, beispielsweise das Fehlen anständiger Schulen, Polizeikräfte und Regierungsbehörden (Kapitel 6 ). Und da Krieg Entwicklung im Rückwärtsgang ist, wissen wir nicht einmal genau, inwieweit die Armut den Krieg oder der Krieg die Armut verursacht.
Und während extreme Armut zwar in einem Zusammenhang mit Bürgerkriegen steht, korreliert sie offenbar nicht mit Völkermord. Wie bereits erwähnt, gibt es in armen Ländern häufiger politische Krisen, und politische Krisen können zum Völkermord führen, aber wenn ein Land eine Krise durchmacht, wird es durch Armut nicht anfälliger für Völkermord (Kapitel 6 ). Am anderen Ende des Wohlstandsspektrums steht Deutschland Ende der 1930 er Jahre: Es hatte das Schlimmste der Weltwirtschaftskrise hinter sich und wurde zu einem führenden Industriestaat, und doch brauten sich dort die Gräueltaten zusammen, die dazu führten, dass man das Wort
Genozid
prägte.
Die vielschichtigen Zusammenhänge zwischen Wohlstand und Gewalt erinnern uns daran, dass der Mensch nicht vom Brot allein lebt. Wir sind glaubende, moralisierende Tiere, und unsere Gewalt entspringt zu einem großen Teil nicht einem Mangel an Wohlstand, sondern destruktiven Ideologien. Zum Besseren oder Schlechteren – in der Regel aber zum Schlechteren – sind Menschen häufig bereit, materielle Annehmlichkeiten gegen etwas einzutauschen, das sie für spirituelle Reinheit, gemeinschaftliche Herrlichkeit oder vollkommene Gerechtigkeit halten.
Religion.
Im Zusammenhang mit den Ideologien haben wir erfahren, dass aus den alten Stammesdogmen kaum etwas Gutes erwachsen ist. Auf der ganzen Welt erlaubte der Glaube an Übernatürliches die Opferung von Menschen zur Besänftigung blutrünstiger Götter und den Mord an Hexen wegen ihrer boshaften Kräfte (Kapitel 4 ). Die heiligen Schriften zeichnen einen Gott, der Spaß an Völkermord, Vergewaltigung, Sklaverei und der Hinrichtung von Nonkonformisten hat, und über Jahrtausende hinweg dienten diese Schriften als Begründung für Massaker an Ungläubigen, Eigentum an Frauen, Schläge für Kinder, das Eigentumsrecht an Tieren sowie die Verfolgung von Ketzern und Homosexuellen (Kapitel 1 , 4 und 7 ). Humanitäre Reformen wie die Beseitigung grausamer Bestrafungen, die Verbreitung Mitgefühl erregender Romane und die Abschaffung der Sklaverei stießen zu ihrer Zeit auf den energischen Widerstand der kirchlichen Behörden und ihrer Vertreter (Kapitel 4 ). Die Erhebung engstirniger Wertvorstellungen in den Status des Heiligen ist ein Freibrief zur Missachtung der Interessen anderer Menschen und zwingt dazu, die Möglichkeit von Kompromissen zu leugnen (Kapitel 9 ). Sie stachelte die Konfliktparteien in den europäischen Religionskriegen auf, der zweitblutigsten Phase der modernen abendländischen Geschichte, und erzürnt noch heute die Konfliktparteien im Nahen Osten sowie in Teilen der islamischen Welt. Die Theorie von der Religion als Kraft des Friedens, die man heute häufig von der religiösen Rechten und ihren Verbündeten hört, passt nicht zu den historischen Tatsachen.
Vertreter der Religionen behaupten, die beiden großen Völkermordideologien des 20 . Jahrhunderts, der Faschismus und der Kommunismus, seien atheistisch gewesen. Aber die erste Behauptung ist falsch und die zweite bedeutungslos (Kapitel 4 ). Der Faschismus führte in Spanien, Italien, Portugal und Kroatien eine fröhliche Koexistenz mit dem Katholizismus, und auch wenn Hitler für das Christentum kaum eine Verwendung hatte, war er keineswegs Atheist; er erklärte vielmehr, er führe einen göttlichen Plan aus. [1939] Wie Historiker nachweisen konnten, wollten viele führende Nationalsozialisten ihre Ideologie mit dem deutschen Christentum zu einem synkretistischen Glauben verschmelzen, der sich auf Visionen vom tausendjährigen Reich und eine lange Geschichte des Antisemitismus stützte. [1940] Dem schlossen sich viele christliche Geistliche und ihre Schäfchen nur allzu bereitwillig an und machten in ihrer Gegnerschaft gegen die tolerante, säkulare, kosmopolitische Kultur der Weimarer Zeit
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