Gewalt
ritterliche Lebensweise in Vergessenheit geraten, und das ist für das Bild von der ritterlichen Lebensweise nur gut. Der wirkliche Inhalt der Geschichten über das Ritterleben im Mittelalter, die im 6 . Jahrhundert spielen und vom 11 . bis zum 13 . Jahrhundert niedergeschrieben wurden, war nicht der Stoff für ein typisches Broadwaymusical. Der Mittelalter-Forscher Richard Kaeuper bezifferte die Zahl der extremen Gewalttaten in dem berühmtesten derartigen Roman, dem
Lancelot
aus dem 13 . Jahrhundert, auf eine je vier Seiten.
Wenn wir uns nur auf zahlenmäßig erfassbare Fälle beschränken, werden mindestens acht Schädel gespalten (manche bis zu den Augen, manche bis zu den Zähnen, manche bis zum Kinn), acht unberittene Männer werden absichtlich von Siegern mit den gewaltigen Hufen ihrer Schlachtrösser zermalmt (so dass sie wiederholt vor Schmerzen in Ohnmacht fallen), fünf Enthauptungen finden statt, zwei ganze Schultern werden abgeschlagen, drei Hände abgeschnitten, drei Arme in unterschiedlicher Länge amputiert, ein Ritter wird in ein loderndes Feuer geworfen, und zwei werden in den plötzlichen Tod katapultiert. Eine Frau wird von einem Ritter schmerzhaft in Eisen gelegt; eine wird von Gott jahrelang in einer Wanne mit siedendem Wasser festgehalten, und eine wird nur knapp von einer geschleuderten Lanze verfehlt. Frauen werden häufig entführt, und an einer Stelle erfahren wir von 40 Vergewaltigungen …
Neben diesen leicht zu zählenden Vorgängen gibt es Berichte über drei Privatkriege (darunter einer mit 100 Todesopfern auf einer Seite und ein anderer mit 500 Toten durch Vergiften) … In einem [Turnier] tötet Lancelot den ersten Mann, der ihm begegnet, mit seiner Lanze, um die richtige Stimmung herzustellen, und dann schlägt er mit gezogenem Schwert ›nach rechts und links, tötet Pferde und Ritter gleichzeitig, schneidet Füße und Hände, Köpfe und Arme, Schultern und Beine ab, streckt jene über ihm nieder, wo er sie trifft, und hinterlässt eine traurige Spur, so dass die ganze Erde im Blut gebadet ist, wo immer er vorüberkam.‹ [40]
Wie kamen die Ritter zu ihrem Ruf als edle Männer? Nach
Lancelot
hatte dieser »die Gewohnheit, nie einen Ritter zu töten, der um Gnade bettelte, es sei denn, er hätte es vorher geschworen oder er konnte es nicht vermeiden«. [41]
Wie steht es mit der vielgerühmten Behandlung der edlen Damen? Ein Ritter wirbt um eine Prinzessin, indem er gelobt, um ihretwillen die schönste Frau zu vergewaltigen, die er finden kann; sein Konkurrent verspricht, ihr die Köpfe der Ritter zu schicken, die er in Turnieren besiegt hat. Die Ritter beschützen tatsächlich die Edelfrauen, aber nur um zu verhindern, dass sie von anderen Rittern entführt werden. Laut
Lancelot
: »Nach den Sitten des Königreiches Logres hat eine Dame oder Jungfrau, die allein reist, nichts zu befürchten. Reist sie aber in Gesellschaft eines Ritters, und ein anderer Ritter kann sie im Kampf gewinnen, nimmt der Sieger die Dame oder Jungfrau so, wie er es wünscht, ohne Schande oder Schuld auf sich zu laden.« [42] Das meinen die meisten Menschen heute sicher nicht mit dem Wort
ritterlich
.
Europa in der frühen Neuzeit
In Kapitel 3 werden wir noch genauer erfahren, dass es im mittelalterlichen Europa ein wenig ruhiger zuging, nachdem die ritterlichen Kriegsherren von den Herrschern zentralisierter Königreiche unter Kontrolle gebracht wurden. Aber auch Könige und Königinnen waren alles andere als Vorreiter einer edlen Gesinnung.
Im Commonwealth lernen Schulkinder ein Schlüsselereignis der britischen Geschichte häufig mit Hilfe einer Eselsbrücke kennen: »King Henry the Eight, to six wives he was wedded: One died, one survived, two divorced, two beheaded.« [König Heinrich VIII ., er hatte sechs Frauen: eine starb, eine überlebte, zwei wurden geschieden, zwei enthauptet.] Enthauptet! Im Jahr 1536 hieß Heinrich seine Frau Anne Boleyn aufgrund vorgeschobener Beschuldigungen des Ehebruches und der Untreue köpfen, weil sie ihm einen Sohn geschenkt hatte, der nicht am Leben blieb, und weil er eine ihrer Hofdamen attraktiver fand. Zwei Frauen später verdächtigte er Catherine Howard des Ehebruchs und schickte sie ebenfalls unter das Beil des Henkers. (Den Richtblock können Touristen, die den Londoner Tower besichtigen, noch heute sehen.) Heinrich war ganz offensichtlich der eifersüchtige Typ. Er ließ auch einen alten Freund Catherines ausweiden und vierteilen, das heißt, er
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