Gewalt
Europas, den Industrieländern und den eher »blauen« Staaten der USA (Kapitel 3 und 7 ). Mehrere konservative Wissenschaftler äußerten mir gegenüber die betrübte Vermutung, im Westen sei durch den Verlust von Tugenden wie Tapferkeit und Heldenmut sowie durch den Aufschwung von Materialismus, Freizügigkeit, Dekadenz und Verweichlichung alles schlechter geworden. Nun, ich bin davon ausgegangen, dass Gewalt immer etwas Schlechtes ist, außer wenn sie noch größere Gewalt verhindert; in einem aber haben diese Männer recht: Ich treffe damit ein Werturteil, aber kein logisches Argument spricht von sich aus stärker für Frieden als für Ehre und Ruhm. Dennoch denke ich, dass die potentiellen Opfer dieser ganzen Männlichkeit es verdient haben, in der Diskussion mitzureden, und sie sind wahrscheinlich nicht der Ansicht, dass ihr Leben oder ihre Gliedmaßen ein angemessener Preis für die Verherrlichung männlicher Tugenden sind.
Die Verweiblichung ist noch aus einem anderen Grund eine friedensstiftende Entwicklung. Gesellschaftliche und sexuelle Übereinkünfte, in denen die Interessen der Frauen stärker berücksichtigt werden, trocknen in der Regel den Sumpf aus, in dem die gewalttätige Konkurrenz zwischen Männern gedeiht. Eine solche Übereinkunft ist die Ehe: Männer verpflichten sich, in die von ihnen gezeugten Kinder zu investieren, statt untereinander um sexuelle Gelegenheiten zu konkurrieren. Durch die Heirat verringern sich der Testosteronspiegel eines Mannes und die Wahrscheinlichkeit, dass er das Leben eines Verbrechers führt; und wie wir erfahren haben, sanken die Mordquoten in den Vereinigten Staaten während der ehefreundlichen 1940 er und 1950 er Jahre stark ab, in den 1960 er und 1970 er Jahren dagegen, als man die Ehe immer stärker hinausschob, stiegen sie wieder an; und in afroamerikanischen Gemeinschaften, in denen die Quote der Eheschließungen besonders gering ist, sind sie bis heute hoch geblieben (Kapitel 3 ).
Ein anderer Faktor, der den Sumpf austrocknen lässt, ist zahlenmäßiger Gleichstand. Unbeaufsichtigte reine Männermilieus wie die Cowboy- und Bergarbeiterlager des amerikanischen Westens sind fast immer von Gewalt geprägt (Kapitel 3 ). Der Westen war wild, weil ausschließlich junge Männer dorthin gingen, während die jungen Frauen im Osten blieben. Der Männerüberschuss kann aber in einer Gesellschaft auch eine noch düsterere Ursache haben: Die Frauen wurden abgetrieben oder bei der Geburt umgebracht. In einem Artikel mit der Überschrift »A Surplus of Men, a Deficit of Peace« [»Männerüberschuss, Friedensdefizit«] weisen die Politikwissenschaftlerinnen Valerie Hudson und Andrea den Boer nach, dass die traditionelle Tötung kleiner Mädchen in China schon seit langem zu einer großen Zahl alleinstehender Männer geführt hat. [1947] Es handelt sich dabei stets um arme Männer, denn die reicheren locken die wenigen Frauen an. Diese »nackten Zweige«, wie sie in China genannt werden, tun sich zu Banden von Landstreichern zusammen, die untereinander raufen, sich bekämpfen und die sesshafte Bevölkerung ausrauben und terrorisieren. Sie können sogar zu Armeen heranwachsen, die eine Bedrohung für lokale oder nationale Behörden darstellen. Ein Politiker kann versuchen, die Banden durch gewalttätige Unterdrückung unschädlich zu machen, oder er kann versuchen, sie zu rekrutieren. Das wiederum erfordert in der Regel eine Macho-Herrschaftsphilosophie, die zu den Gebräuchen der jungen Männer passt. Vor allem aber kann ein solcher Politiker ihre zerstörerische Energie exportieren, indem er sie als Wanderarbeiter, Siedler oder Soldaten in andere Regionen schickt. Wenn die Politiker konkurrierender Staaten sich darum bemühen, auf diese Weise ihre überschüssigen Männer loszuwerden, kann daraus ein mörderischer Zermürbungskrieg werden. Hudson und den Boer formulieren es so: »Jede Gesellschaft hat in einem solchen Konflikt viele entbehrliche nackte Zweige – und die jeweiligen Regierungen entbehren sie mit Vergnügen.« [1948]
Der traditionelle Frauenmord, zu dem in den 1980 er Jahren noch die Branche der Abtreibung weiblicher Feten hinzukam, führte in der Bevölkerungsstruktur von Afghanistan, Bangladesch, China, Pakistan und Teilen Indiens zu einer »Beule« überzähliger Männer (Kapitel 7 ). [1949] Dieser Männerüberschuss lässt, was die unmittelbaren Aussichten auf Frieden und Demokratie in den betreffenden Regionen angeht, nichts Gutes erwarten. Auf lange
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