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Gewalt

Gewalt

Titel: Gewalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Pinker
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politisch korrekten Lehre über das Wesen des Menschen; sie war einerseits eine Reaktion auf frühere, rassistische Doktrinen über »primitive« Menschen, und andererseits erwuchs sie aus der Überzeugung, dass sie eine erbaulichere Ansicht über den Zustand der Menschen darstellt. Wenn Hobbes recht hatte, so die Ansicht vieler Anthropologen, wäre Krieg unvermeidlich oder sogar wünschenswert; deshalb müsse jeder, der den Frieden bevorzugt, überzeugt sein, dass Hobbes sich irrte. Diese »Friedensanthropologen« (die in Wirklichkeit recht aggressive Akademiker sind – der Verhaltensforscher Johan van Dennen bezeichnet sie als Friedens- und Harmonie-Mafia) beharrten darauf, dass die Menschen und Tiere eine starke Hemmung haben, Artgenossen zu töten, dass Krieg eine Erfindung der jüngeren Zeit ist und dass Kämpfe zwischen indigenen Völkern harmlose Rituale waren, bis sie mit den europäischen Kolonisatoren zusammentrafen. [67]
    Wie ich in der Einleitung bereits erwähnt habe, stellen die moralistischen Motive, die hinter einer solchen romantischen Theorie der Gewalt stecken, die Verhältnisse nach meiner Überzeugung auf den Kopf, aber darum geht es mir in diesem Kapitel nicht. Was die Gewalt in vorstaatlicher Zeit betrifft, redeten Hobbes und Rousseau ins Blaue hinein: Beide wussten nicht das Geringste über das Leben vor Beginn der Zivilisation. Heute sind wir klüger. Dieses Kapitel gibt einen Überblick über die tatsächliche Gewalt in den frühesten Stadien der Menschheitsentwicklung. Die Geschichte beginnt, bevor wir überhaupt Menschen waren, und wir werden uns die Aggressionen bei unseren Primatenvettern ansehen, um daraus Rückschlüsse über die Entstehung der Gewalt in unserer entwicklungsgeschichtlichen Abstammungslinie zu ziehen. Wenn wir bei unserer eigenen Spezies angelangt sind, werde ich mich auf den Kontrast zwischen wandernden Gruppen und Stämmen auf der einen Seite, die in einem Zustand der Anarchie leben, und geordneten Staaten unter irgendeiner Form von Regierung auf der anderen konzentrieren. Wir werden uns ansehen, wie und um was wandernde Gruppen kämpfen. Dies führt uns zu der entscheidenden Frage: Sind Konflikte zwischen anarchischen Stämmen mehr oder weniger zerstörerisch als die zwischen Menschen, die in Staaten leben? Um eine Antwort zu finden, müssen wir von der Erzählung zu Zahlen übergehen; zur Pro-Kopf-Rate eines gewaltsamen Todes, so gut wir diese abschätzen können, in Gesellschaften, die unter einem Leviathan leben, und solchen, die in Anarchie leben. Am Ende schließlich werden wir uns mit den Vor- und Nachteilen des zivilisierten Lebens beschäftigen.

Kapitel 3 Der Prozess der Zivilisation
    Es ist unmöglich zu übersehen, in welchem Ausmaß die Kultur auf Triebverzicht aufgebaut ist.
    Sigmund Freud
    Seit ich mit Messer und Gabel essen kann, kämpfe ich bei Tisch mit der Benimmregel, wonach man das Essen nicht mit dem Messer auf die Gabel schieben soll. Natürlich bin ich geschickt genug, um Brocken von ausreichendem Gewicht so aufzunehmen, dass sie liegen bleiben, wenn ich die Gabel darunterschiebe. Aber kleinen Würfeln oder winzigen Kugeln, die bei jeder Berührung der Zinken abprallen oder wegrollen, ist mein schwächliches Kleinhirn einfach nicht gewachsen. Ich verfolge sie über den Teller, suche verzweifelt nach einer Erhöhung oder Schräge, die mir den notwendigen Widerhalt bietet, und hoffe, dass sie nicht die Fluchtgeschwindigkeit erreichen und erst auf dem Tischtuch zur Ruhe kommen. Hin und wieder nutze ich den Augenblick, wenn meine Tischgenossin nicht hinschaut, und hindere die Stückchen mit dem Messer am Entkommen, bevor sie sich wieder umwendet und meinen Fauxpas bemerkt. Und alles nur, um die Schmach, die Flegelhaftigkeit, die unerträgliche Grobheit zu vermeiden, dass ich das Messer zu etwas anderem als zum Schneiden benutzt habe. Gebt mir einen ausreichend langen Hebel, sagte Archimedes, und einen festen Punkt, auf den ich ihn legen kann, dann hebe ich die Welt aus den Angeln. Aber wenn er sich bei Tisch zu benehmen wusste,
hätte er ein paar Erbsen nicht mit dem Messer auf die Gabel schieben können!
    Ich weiß noch, wie ich als Kind dieses sinnlose Verbot in Frage stellte. Was ist daran so schrecklich, wollte ich wissen, wenn man das Besteck auf effiziente und hygienisch völlig einwandfreie Weise benutzt? Schließlich hatte ich nicht gefragt, ob ich das Kartoffelpüree mit den Fingern essen durfte. Aber wie alle Kinder unterlag ich in der

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