Gewalt
Diskussion, als mir die Antwort »weil ich es dir sage« entgegengehalten wurde, und jahrzehntelang murrte ich lautlos über die unverständlichen Regeln des guten Benehmens. Aber eines Tages, während der Recherchen zu diesem Buch, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Das Rätsel löste sich in Wohlgefallen auf, und ich ließ meine Abneigung gegen die Kein-Messer-Regel ein für alle Mal fahren. Diese Erleuchtung verdanke ich dem wichtigsten Denker, von dem Sie vielleicht nie gehört haben: Norbert Elias.
Elias wurde 1897 in Breslau (dem heutigen Wrocław) geboren und studierte Soziologie und Wissenschaftsgeschichte. [139] Er flüchtete 1933 aus Deutschland, weil er Jude war, wurde 1940 in einem britischen Gefangenenlager festgesetzt, weil er Deutscher war, und verlor beide Eltern durch den Holocaust. Neben all diesen Tragödien brachte der Nationalsozialismus eine weitere in sein Leben: Sein Hauptwerk
Der Prozeß der Zivilisation
erschien 1939 in Deutschland, zu einer Zeit, als schon der Gedanke sich wie ein schlechter Witz anhörte. Elias tingelte von einer Universität zur anderen, unterrichtete meist an der Abendschule und ließ sich zum Psychotherapeuten umschulen, bevor er schließlich an der Universität Leicester sesshaft wurde. Dort lehrte er bis zu seiner Pensionierung 1962 . Aus der Vergessenheit tauchte er 1969 wieder auf, als
Der Prozeß der Zivilisation
in englischer Übersetzung erschien, und erst in seinem letzten Lebensjahrzehnt, als eine erstaunliche Tatsache ans Licht kam, wurde er als führende Gestalt der Moderne anerkannt. Die Entdeckung bezog sich nicht auf die Begründung der Tischmanieren, sondern auf die Geschichte der Morde.
Im Jahr 1981 berechnete der Politikwissenschaftler Ted Robert Gurr aufgrund gerichtlicher und behördlicher Dokumente eine Schätzung für die Mordquote in dreißig verschiedenen Epochen der englischen Geschichte. Er nahm Zahlen aus modernen Unterlagen aus London hinzu und zeichnete alles in ein Diagramm ein. [140]
Abbildung 3 - 1 :
Mordquote in England in den Jahren 1200 bis 2000
Dies ist in Abbildung 3 - 1 wiedergegeben. Ich verwende eine logarithmische Skala, in der 1 von 10 , 10 von 100 und 100 von 1000 durch den gleichen vertikalen Abstand getrennt sind. Die Quote wurde wie im vorangegangenen Kapitel berechnet, nämlich als Anzahl der Morde pro 100 000 Menschen pro Jahr. Die logarithmische Skala ist notwendig, weil die Mordquote so steil abfällt. Das Diagramm zeigt, dass die Morde in verschiedenen Gegenden von England vom 13 . bis zum 20 . Jahrhundert um den Faktor 10 , 50 und in manchen Fällen um 100 zurückgingen – zum Beispiel von 110 Morden pro 100 000 Einwohner pro Jahr im Oxford des 14 . Jahrhunderts auf weniger als einen Mord pro 100 000 Mitte des 20 . Jahrhunderts in London.
Über die Graphik staunten fast alle – auch ich. (Wie gesagt: Sie war der Samen, der zu diesem Buch heranwuchs.) Die Entdeckung bringt alle Klischees von der verdorbenen Gegenwart und der idyllischen Vergangenheit durcheinander. In meiner eigenen Internet-Umfrage zur Wahrnehmung von Gewalt schätzten die Befragten, es gehe in England im 20 . Jahrhundert um 14 Prozent gewalttätiger zu als im 14 . In Wirklichkeit war die Gewalttätigkeit um 95 Prozent niedriger. [141]
Erklärungen für den Rückgang der Morde in Europa
Sehen wir uns jetzt einmal an, welche Folgerungen sich aus dem jahrhundertelangen Rückgang der Morde in Europa ergeben. Glauben Sie, dass ein Leben in der Stadt mit seiner Anonymität, großen Menschenmassen, Migranten und einem Durcheinander der Kulturen und Schichten eine Brutstätte für Gewalt ist? Wie steht es mit dem quälenden gesellschaftlichen Wandel, der durch den Kapitalismus und die Industrielle Revolution ausgelöst wurde? Sind Sie überzeugt, dass das Leben in einem kleinen Ort, in dem Kirche, Tradition und Gottesfurcht im Mittelpunkt stehen, das beste Bollwerk gegen Mord und Totschlag ist? Nun, denken Sie noch einmal darüber nach. Während Europa immer urbaner, kosmopolitischer, kommerzieller, industrialisierter und säkularer wurde, wurde es auch immer sicherer. Damit sind wir wieder bei den Gedanken von Norbert Elias, das heißt bei der einzigen Theorie, die noch haltbar ist.
Als Elias seine Theorie des Zivilisationsprozesses entwickelte, brütete er nicht über Zahlen – die standen zu seiner Zeit noch nicht zur Verfügung –, sondern er untersuchte, wie das Alltagsleben im europäischen Mittelalter beschaffen
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