Gewalt
Bei den meisten Tierarten investiert das Weibchen mehr in die Nachkommen als das Männchen. Das gilt insbesondere für die Säugetiere, bei denen die Mutter den Nachwuchs in ihrem Körper austrägt und nach der Geburt säugt. Ein Männchen kann die Zahl seiner Nachkommen vermehren, indem es sich mit mehreren Weibchen paart – was dazu führt, dass andere Männchen kinderlos bleiben –, ein Weibchen dagegen vermehrt die Zahl seiner Nachkommen nicht durch die Paarung mit mehreren Männchen. Deshalb ist die Fortpflanzungsfähigkeit der Weibchen eine knappe Ressource, um die es bei vielen Arten einschließlich des Menschen Konkurrenz unter den Männchen gibt. [63] Nebenbei bemerkt: Das alles bedeutet nicht, dass Männer gengesteuerte Roboter wären, dass es eine moralische Entschuldigung für Vergewaltigung oder das Kämpfen gibt, dass Frauen ein passiver sexueller Preis wären, dass Menschen versuchen, so viele Kinder wie möglich zu haben, oder dass die Menschen unempfindlich gegenüber Einflüssen ihrer Kultur wären, um nur einige verbreitete Missverständnisse im Zusammenhang mit der Theorie der sexuellen Selektion zu nennen. [64]
Die zweite Ursache für Konflikte ist die Unsicherheit. Sie ist eine Folge der ersten: Konkurrenz schürt Ängste. Wenn man Grund zu der Vermutung hat, der Nachbar könne einen beispielsweise durch Tötung aus der Konkurrenz ausschließen, dann neigt man auch dazu, sich selbst zu schützen und ihn als Vorbeugungsmaßnahme zu töten. Diese Versuchung besteht unter Umständen selbst dann, wenn man ansonsten keiner Fliege etwas zuleide tun würde, es sei denn, man wäre bereit, sich hinzulegen und sich töten zu lassen. Das Tragische dabei: Der Konkurrent hat allen Grund, genau die gleiche Berechnung anzustellen, auch wenn er eigentlich ein Mensch ist, der keiner Fliege etwas zuleide tut. Selbst wenn er
weiß
, dass ich ihm gegenüber keine aggressiven Absichten hege, könnte er sich zu Recht Sorgen machen, ich könnte versucht sein, ihn unschädlich zu machen, weil ich Angst habe, er würde mich zuerst unschädlich machen, was für mich ein Anreiz wäre, ihn unschädlich zu machen, und so unendlich immer weiter. Der Politikwissenschaftler Thomas Schelling führt den Vergleich mit einem bewaffneten Hausbesitzer an, der einen bewaffneten Einbrecher überrascht: Jeder der beiden ist versucht, den anderen zu erschießen, um nicht selbst als Erster erschossen zu werden. [65] Dieses Paradox wird manchmal als Hobbes’sche Falle oder – im Bereich der Internationalen Beziehungen – als Sicherheitsdilemma bezeichnet.
Wie können intelligente Handelnde sich aus der Hobbes’schen Falle befreien? Der naheliegendste Ausweg ist eine Politik der Abschreckung: Schlage nicht als Erster zu, aber sei so stark, dass du einen Erstschlag überlebst, und übe gegen jeden Aggressor Vergeltung. Eine glaubwürdige Abschreckungspolitik kann für den Konkurrenten den Anreiz beseitigen, aus Gewinnstreben anzugreifen – die Kosten, die ihm durch die Vergeltung entstehen würden, machen den voraussichtlichen Gewinn zunichte. Gleichzeitig ist für ihn damit auch der Anreiz beseitigt, aus Furcht anzugreifen: Wir haben uns ja verpflichtet, nicht als Erste zuzuschlagen, und – was noch wichtiger ist – auch der Anreiz für einen Erstschlag ist geringer, da Abschreckung das Bedürfnis nach einer Vorentscheidung mindert. Der Schlüssel zu einer solchen Politik ist die Glaubwürdigkeit der Drohung, dass man sich rächen wird. Glaubt der Gegner, wir seien so schwach, dass er uns in einem Erstschlag auslöschen kann, hat er keinen Grund, die Vergeltung zu fürchten. Und wenn er glaubt, wir würden nach einem Angriff aus Vernunftgründen auf Vergeltung verzichten, weil es dann ohnehin zu spät ist, nutzt er diese vernünftige Haltung unter Umständen aus und bleibt nach einem Angriff ungestraft. Nur wenn wir entschlossen sind, jeden Verdacht der Schwäche zu widerlegen, jeden Übergriff zu rächen und alle Rechnungen zu begleichen, bleibt unsere Abschreckungspolitik glaubwürdig. Damit haben wir einen Anreiz, schon wegen Kleinigkeiten anzugreifen: wegen eines Wortes, eines Lächelns oder eines anderen Zeichens der Herablassung. Hobbes bezeichnet das als »Ruhm«; häufiger wird es »Ehre« genannt, aber am genauesten ist es mit »Glaubwürdigkeit« beschrieben.
Die Politik der Abschreckung ist auch als »Gleichgewicht des Schreckens« bekannt und während des Kalten Kriegs als gegenseitig zugesicherte
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