Gewalt
sagen immer, wir wären etwas Besonderes): Sie teilten ein Gefühl der Solidarität, das sie mutig machte, als sei ihre Generation eine ethnische Gruppe oder Nation. (Ein Jahrzehnt später war großspurig von der »Woodstock-Nation« die Rede). Sie waren nicht nur zahlreicher als ältere Generationen, sondern dank der neuen elektronischen Medien spürten sie diese große Zahl auch. Die geburtenstarken Jahrgänge waren die erste Generation, die mit dem Fernsehen groß wurde. Und durch das Fernsehen erfuhren sie insbesondere im Zeitalter der drei Programme, dass andere Angehörige der geburtenstarken Jahrgänge die gleichen Erfahrungen machten – sie wussten, dass die anderen wussten, was sie wussten. Dieses Gemeinwissen, wie Wirtschaftswissenschaftler und Logiker es nennen, wurde zum Nährboden für ein horizontales Netz der Solidarität, und dieses Netz zerschnitt die senkrechten Verbindungen zu Eltern und Autoritäten, die junge Menschen früher isoliert und gewaltsam an die Älteren gebunden hatten. [255] Ganz ähnlich wie eine unzufriedene Bevölkerung, die sich nur dann in der Masse stark fühlt, wenn sie sich zu einer Demonstration zusammenfindet, so sahen auch die geburtenstarken Jahrgänge, wie junge Leute ihres Schlages im Publikum der Ed Sullivan Show zur Musik der Rolling Stones einen draufmachten; sie wussten, dass alle anderen jungen Menschen in Amerika das Gleiche taten, und sie wussten, dass die anderen wussten, dass sie es wussten.
Die geburtenstarken Jahrgänge wurden auch durch ein weiteres technisches Mittel der Solidarität zusammengehalten, das zuerst von einem unbekannten japanischen Konzern namens Sony vermarktet worden ist: das Transistorradio. Wenn heutige Eltern sich beschweren, die iPods und Handys hätten in den Ohren ihrer Teenager bereits Wurzeln geschlagen, dann vergessen sie, dass ihre eigenen Eltern die gleichen Klagen früher auch über sie und ihre Transistorradios anstimmten. Ich kann mich noch gut erinnern, wie spannend es war, die New Yorker Radiosender einzustellen, die nachts von der Ionosphäre in mein Schlafzimmer in Montreal zurückgeworfen wurden. Unter der Bettdecke hörten wir Motown und Dylan und die britische Importmusik und Psychedelisches, und dabei hatten wir das Gefühl, dass wirklich etwas los war und dass nur MrJones nicht wusste, was. [256]
Ein Gefühl der Solidarität bei jungen Leuten im gewaltanfälligen Alter zwischen 15 und 25 Jahren – das ist für eine zivilisierte Gesellschaft auch unter den besten Umständen eine Bedrohung. Verstärkt wurde der Entzivilisationsprozess durch einen Trend, der während des gesamten 20 . Jahrhunderts an Schubkraft gewonnen hatte. Der Soziologe Cas Wouters, Übersetzer und intellektueller Erbe von Elias, vertrat die Ansicht, dass der europäische Zivilisationsprozess am Ende von einem
Informalisierungsprozess
abgelöst wurde. Im Laufe des Zivilisationsprozesses hatten sich Normen und Sitten von der Oberschicht aus nach unten durchgesetzt. Als die westlichen Staaten aber immer demokratischer wurden und die Oberschicht als moralisches Beispiel zunehmend in Misskredit geriet, wurden Rangordnungen von Geschmack und Sitten eingeebnet. Dieser Verlust des Förmlichen betraf beispielsweise die Kleidung der Menschen: Man gab Hut, Handschuhe, Krawatte und Anzug zugunsten legerer, sportlicher Kleidung auf. Ebenso betraf er die Sprache – Menschen redeten sich zunehmend mit dem Vornamen und mit Du an. Und er war auch in unzähligen anderen Bereichen zu beobachten, in denen Sprachstil und Benehmen weniger förmlich und spontaner wurden. [257] Die überkorrekte feine Dame, beispielsweise die Gestalt der Margaret Dumont in den Marx-Brothers-Filmen, war zunehmend kein Vorbild mehr, dem man nacheiferte, sondern ein Gegenstand des Spotts.
Nachdem die Eliten vom Informalisierungsprozess zuverlässig abgewertet worden waren, erlitt ihre Legitimität einen weiteren Schlag. Die Bürgerrechtsbewegung hatte dem amerikanischen Establishment ein moralisches Brandmal aufgedrückt, und als Kritiker auch andere Teile der Gesellschaft beleuchteten, kamen immer mehr solcher Makel zum Vorschein. Dazu gehörten die Gefahr eines nuklearen Holocaust, die verbreitete Armut, die Behandlung der amerikanischen Ureinwohner, die vielen freiheitsfeindlichen Militärinterventionen in anderen Ländern – darunter insbesondere der Krieg in Vietnam – und später die Umweltverschmutzung sowie die Unterdrückung von Frauen und Homosexuellen. Der erklärte
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