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Gewalt

Gewalt

Titel: Gewalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Pinker
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in der Entwicklung der Zeitmessinstrumente und des Zeitbewusstseins wider: »Das ist der Grund, aus dem sich so oft Tendenzen im einzelnen Bürger gegen die durch sein eigenes Über-Ich repräsentierte, gesellschaftliche Zeit auflehnen und aus dem so viele Menschen mit sich selbst in Konflikt geraten, wenn sie pünktlich sein wollen.« [260] In der Eröffnungsszene des 1969 erschienenen Films
Easy Rider
werfen Dennis Hopper und Peter Fonda demonstrativ ihre Armbanduhren weg, bevor sie sich mit ihren Motorrädern auf den Weg machen, um Amerika zu finden. Ähnlich das erste Album der Band Chicago (die damals Chicago Transit Authority hieß): Dort lautet eine Textstelle »Does anybody really know what time it is? Does anybody really care? If so I can’t imagine why.« [»Weiß eigentlich jemand, wie spät es ist? Kümmert es eigentlich jemanden? Wenn ja, kann ich mir nicht vorstellen, warum.«] Als ich 16 war, erschien mir das alles höchst sinnvoll, und so warf auch ich meine Timex weg. Als meine Großmutter mein nacktes Handgelenk sah, fragte sie ungläubig: »Wie kannst du ohne Zager ein Mensch sein?« Sie lief zu einer Schublade und holte eine Seiko heraus, die sie einen Monat zuvor auf der Weltausstellung von 1970 in Osaka gekauft hatte. Diese Uhr besitze ich heute noch.
    Neben Selbstbeherrschung und gesellschaftlicher Einbindung wurde noch ein drittes Ideal angegriffen: die Ehe und das Familienleben, die in den vorangegangenen Jahrzehnten so viel dazu beigetragen hatten, die männliche Gewalt zu domestizieren. Der Gedanke, dass ein Mann und eine Frau ihre Energie einer monogamen Beziehung widmen sollten, in der sie ihre Kinder versorgen und in einem sicheren Umfeld großziehen, wurde zum Gegenstand lautstarken Spotts. Dieses Leben war plötzlich die seelenlose, konformistische, konsumorientierte, materialistische, schäbige, mit Plastik und Weißbrot ausgestattete Vorstadtwüste der spießigen Fernsehserien.
    Ich kann mich nicht daran erinnern, dass irgendjemand in den 1960 er Jahren seine Nase ins Tischtuch geschnäuzt hätte, aber die Popkultur feierte tatsächlich die Abkehr von Standards der Sauberkeit, des Eigentums und der sexuellen Mäßigung. Die Hippies wurden allgemein als ungewaschen und übelriechend wahrgenommen, was nach meiner Erfahrung Verleumdung war. Es lässt sich aber nicht leugnen, dass sie die üblichen Maßstäbe der Körperpflege ablehnten, und ein Bild aus Woodstock, das dauerhaft in Erinnerung blieb, zeigte nackte Konzertbesucher, die sich im Schlamm wälzten. Die Umkehr der Konventionen in Sachen Anstand könnte man allein an Schallplattencovern dokumentieren. Da gab es
The Who Sell Out
mit einem soßetriefenden Roger Daltrey, der in Baked Beans badete;
Yesterday and Today
von den Beatles, auf dem die liebenswerten Pilzköpfe mit Brocken aus rohem Fleisch und enthaupteten Puppen verziert sind (woran man sich schnell erinnert);
Beggar’s Banquet
von den Rolling Stones mit dem (ursprünglich zensierten) Foto einer verschmutzten öffentlichen Toilette; und
Who’s Next
mit den vier Musikern, die gerade ihre Hosenschlitze schließen, während sie sich von einer urinverspritzten Wand entfernen.
    Die Verhöhnung des Anstandes erstreckte sich auch auf berühmte Live-Auftritte, als zum Beispiel Jimi Hendrix in Monterey so tat, als würde er mit seinem Verstärker kopulieren.
    Abbildung  3 - 17 :
    Verhöhnung von Sauberkeits- und Anstandskonventionen in den 1960 er Jahren
    Die Armbanduhr wegzuwerfen oder ein Bad in Baked Beans zu nehmen, ist natürlich weit entfernt von tatsächlicher Gewaltanwendung. Angeblich waren die 1960 er Jahre eine Epoche von Frieden und Liebe, und in gewisser Hinsicht stimmte das auch. Aber die Verherrlichung der Zügellosigkeit schlug in Nachsicht gegenüber der Gewalt und schließlich in Gewalt selbst um. The Who waren berühmt dafür, dass sie am Ende jedes Konzertes ihre Instrumente in Stücke schlugen. Diesen Auftritt könnte man als harmloses Theater abtun, wenn es nicht auch andere Tatsachen gäbe: Der Schlagzeuger Keith Moon zerstörte Dutzende von Hotelzimmern, machte Pete Townshend durch Betätigung der Trommeln auf der Bühne teilweise taub, schlug seine Frau, seine Freundin und seine Tochter, drohte einem Keyboardspieler der Faces, ihm die Hände zu verletzen, weil er sich mit seiner Exfrau traf, und tötete versehentlich seinen Leibwächter, indem er ihn mit dem Auto überfuhr, bevor er 1978 selbst an der üblichen Überdosis Drogen starb.
    Manchmal

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