Gewalt
wurde die Gewalt gegen Personen in Songs verherrlicht, als wäre sie nur eine andere Form des Protests gegen das Establishment. 1964 sangen Martha Reeves und die Vendells: »Summer’s here and the time is right for dancing in the street.« Darauf antworteten die Rolling Stones vier Jahre später, es sei jetzt an der Zeit, auf der Straße zu
kämpfen
. Als Ausdruck ihrer satanischen Majestät und ihrer Sympathie für den Teufel hatten die Stones ein theatralisches, zehn Minuten langes Lied mit dem Titel »Midnight Rambler« produziert; darin begeht der Boston Strangler eine Vergewaltigung mit anschließendem Mord, und am Ende steht die Zeile »I’m gonna smash down on your plate-glass window / put a fist, put a fist through your steel-plated door / I’ll … stick … my knife right … down … your … throat!« [»Ich zerschmettere dein Flachglas-Fenster, haue eine Faust, eine Faust durch deine Stahltür / Ich stecke … mein Messer geradewegs … in deine Kehle«] Das Getue der Rockmusiker, jeden Schläger und Serienkiller zum flotten »Rebellen« oder »Ausgestoßenen« hochzustilisieren, wurde in dem Film
This Is Spinal Tap
satirisch aufs Korn genommen: Darin spricht die Band von ihrem Plan, ein Rockmusical über das Leben von Jack the Ripper zu schreiben. (Refrain: »You’re a naughty one, Saucy Jack!«)[Du bist unanständig, frecher Jack«]
Noch nicht einmal vier Monate nach Woodstock gaben die Rolling Stones am Altamont Speedway in Kalifornien ein kostenloses Konzert; als Sicherheitspersonal hatten die Veranstalter die Hell’s Angels engagiert, die zu jener Zeit als »ausgestoßene Brüder der Gegenkultur« romantisch verklärt wurden. Die Atmosphäre bei dem Konzert (und vielleicht in den ganzen 1960 er Jahren) spiegelt sich in dieser Beschreibung wider:
Ein riesiger Zirkusartist, der über 130 Kilo wog und Halluzinationen vom LSD hatte, zog sich nackt aus und rannte wie ein Wilder durch die Menge zur Bühne, wobei er die Gäste in alle Richtungen stieß. Dies nahm eine Gruppe von Angels zum Anlass, von der Bühne zu springen und ihn bewusstlos zu schlagen.
Für das, was als Nächstes geschah, bedarf es keines Zitats: Es wurde in dem Dokumentarfilm
Gimme Shelter
festgehalten. Ein Hell’s Angel schlug auf der Bühne den Gitarristen der Band Jefferson Airplane, Mick Jagger versuchte vergeblich, die zunehmend aufmüpfige Menge zu beruhigen, und ein junger Mann aus dem Publikum, der offenbar eine Pistole gezogen hatte, wurde von einem weiteren Angel erstochen.
Als in den 1950 er Jahren die Rockmusik auf der Bildfläche erschien, wurde sie von Politikern und Geistlichen verteufelt, weil sie die Moral untergrabe und der Gesetzlosigkeit Vorschub leiste. (Eine amüsante Videoaufnahme von schimpfenden Spießern aus jener Zeit ist in der Rock and Roll Hall of Fame and Museum in Cleveland zu sehen.) Müssen wir heute – Schluck – eingestehen, dass sie recht hatten? Können wir zwischen den Bildern und Werten aus der Popkultur der 1960 er Jahre und dem tatsächlichen Anstieg der Gewaltverbrechen, von dem sie begleitet waren, einen Zusammenhang herstellen? Unmittelbar natürlich nicht. Eine Korrelation ist keine Kausalbeziehung, und möglicherweise war ein dritter Faktor, der Widerstand gegen die Werte des Zivilisationsprozesses, die Ursache sowohl für die Veränderungen der Popkultur als auch für die Zunahme des gewalttätigen Verhaltens. Außerdem übten die Angehörigen der geburtenstarken Jahrgänge in ihrer überwältigenden Mehrheit keinerlei Gewalt aus. Andererseits verstärken Einstellungen und Popkultur sich mit Sicherheit gegenseitig. Und an den Rändern, wo entsprechend disponierte Personen und Subkulturen sich auf diese oder jene Weise anregen lassen, gab es viele plausible Kausalbeziehungen zwischen der Geisteshaltung der Entzivilisation und konkreter Gewalt.
Eine davon war die Selbstverstümmelung des Strafjustiz-Leviathans. Zwar üben Rockmusiker nur selten unmittelbaren Einfluss auf die Politik aus, aber Schriftsteller und Intellektuelle haben diesen Einfluss durchaus, und sie begannen, im Zeitgeist gefangen, mit der rationalen Aufarbeitung der neuen Zügellosigkeit. Der Marxismus ließ den gewalttätigen Klassenkampf wie einen Weg in eine bessere Welt aussehen. Einflussreiche Denker wie Herbert Marcuse und Paul Goodman bemühten sich darum, den Marxismus oder Anarchismus mit einer neuen Interpretation der Werke Freuds zu verschmelzen: Sie verband sexuelle und emotionale
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