Gewalt
führte auch zu einer völlig neuen Sichtweise der Menschen für ihre historische Entwicklung. Die von der Aufklärung genährte Hoffnung auf Fortschritt unter Führung von Wissenschaft und Vernunft machte einem ganzen Bündel düsterer Diagnosen Platz: der Tötungsinstinkt sei wieder aufgeflammt, die Moderne stehe auf dem Prüfstand, die westliche Zivilisation sitze auf der Anklagebank und der Mensch habe einen faustischen Pakt mit Wissenschaft und Technologie geschlossen. [491]
Aber ein Jahrhundert besteht nicht aus 50 , sondern aus 100 Jahren. In der zweiten Hälfte des 20 . Jahrhunderts kam es seitens der Großmächte zu einer historisch beispiellosen Kriegsvermeidung, die von dem Historiker John Gaddis als »Langer Frieden« bezeichnet wurde, und im Anschluss verlief der Kalte Krieg – ebenso erstaunlich – im Sande. [492] Wie können wir die gespaltene Persönlichkeit dieses wechselvollen Jahrhunderts plausibel erklären? Und welche Rückschlüsse können wir daraus über die Aussichten auf Krieg und Frieden in unserem jetzigen ziehen?
In den rivalisierenden Prophezeiungen des Historikers Toynbee und des Physikers Richardson spiegeln sich einander ergänzende Sichtweisen für den zeitlichen Ablauf von Ereignissen wider. Die traditionelle Geschichtsschreibung ist ein Bericht über die Vergangenheit. Wenn wir aber den Ratschlag von George Santayana beherzigen und uns an die Geschichte erinnern, damit wir sie nicht wiederholen, müssen wir in der Vergangenheit nach
Gesetzmäßigkeiten
suchen. Nur dann wissen wir, welche allgemeinen Aussagen wir über die Probleme der Gegenwart machen können. Aus einer endlichen Menge von Beobachtungen allgemeine Gesetzmäßigkeiten abzuleiten, ist die ureigene Domäne der Naturwissenschaft, und manche Lektionen, die wir beim Formulieren naturwissenschaftlicher Gesetzmäßigkeiten gelernt haben, lassen sich möglicherweise auch auf Daten aus der Geschichtsforschung anwenden.
Nehmen wir um der Argumentation willen einmal an, der Zweite Weltkrieg sei das destruktivste Ereignis der Geschichte gewesen. (Wem es lieber ist, der kann auch annehmen, dass die gesamte Blut-Flut diese Bezeichnung verdient – dann betrachtet man die beiden Weltkriege und die mit ihnen verbundenen Völkermorde als eine einzige, in die Länge gezogene historische Episode.) Welche Aufschlüsse können wir daraus über den langfristigen Trend von Krieg und Frieden gewinnen?
Die Antwort: keine. Das destruktivste Ereignis der Geschichte muss in irgend einem Jahrhundert stattfinden, und es könnte in viele verschiedene, ganz unterschiedlich geartete langfristige Trends eingebettet sein. Toynbee ging davon aus, dass der Zweite Weltkrieg eine Stufe in einer immer höher steigenden Treppe war wie im linken Teil von Abbildung 5 - 1 .
Abbildung 5 – 1 :
Zwei pessimistische Möglichkeiten historischer Trends bei Kriegen
Fast ebenso düster ist die häufig geäußerte Vermutung, Kriegsepochen nähmen einen zyklischen Verlauf wie im rechten Teil von Abbildung 5 - 1 . Wie viele deprimierende Aussichten, so gaben auch diese beiden Modelle den Anlass zu schwarzem Humor. Man hat mich oft gefragt, ob ich schon den Witz von dem Mann gehört hätte, der vom Dach eines Bürogebäudes fällt und den Angestellten auf jeder Etage zuruft: »So weit, so gut!« Ebenso hat man mir schon mehrmals den Witz von dem Truthahn erzählt, der am Vorabend des Thanksgiving Day erklärt, er habe doch Glück: Schließlich lebe er in einer ungewöhnlichen, 364 Tage langen Ära des Friedens zwischen Bauern und Truthähnen. [493]
Aber sind historische Prozesse tatsächlich so deterministisch wie das Gravitationsgesetz oder der Umlauf eines Planeten? Aus der Mathematik wissen wir, dass man durch eine endliche Menge von Punkten eine unendliche Zahl von Kurven legen kann. Abbildung 5 - 2 zeigt zwei andere Kurven, die den gleichen Ablauf in ganz unterschiedliche Zusammenhänge stellen.
Abbildung 5 – 2 :
Zwei weniger pessimistische Möglichkeiten historischer Trends bei Kriegen
Der linke Teil der Abbildung gibt den radikalen Gedanken wieder, dass der Zweite Weltkrieg eine statistische Laune darstellt – danach war er weder ein Schritt in einer eskalierenden Reihe noch der Vorbote dessen, was noch kommen würde, sondern er gehörte einfach zu überhaupt keinem Trend. Auf den ersten Blick hört sich das nach einer absonderlichen Vermutung an. Wie kann ein zufälliger Ablauf zu einer Häufung von so vielen Katastrophen in
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