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Gewalt

Gewalt

Titel: Gewalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Pinker
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nur einem Jahrzehnt führen? Die brutalen Invasionen durch Hitler, Mussolini, Stalin und das japanische Kaiserreich; der Holocaust; Stalins Säuberungen; der Gulag; und zwei Atombombenexplosionen (ganz zu schweigen vom Ersten Weltkrieg sowie den Kriegen und Völkermorden in den vorangegangenen zwei Jahrzehnten) – alles Zufall? Außerdem liegt die Zahl der Todesopfer bei den üblichen Kriegen, die wir in den Geschichtsbüchern finden, in der Größenordnung einiger zehn- oder hunderttausend, sehr selten geht sie auch in die Millionen. Angenommen, Kriege brechen wirklich nach dem Zufallsprinzip aus: Sollte dann nicht ein Krieg, der zum Tod von 55  Millionen Menschen führt, astronomisch unwahrscheinlich sein? Wie Richardson nachweisen konnte, sind beide Intuitionen kognitive Illusion. Wenn der eiserne Würfel einmal ins Rollen gekommen ist (so eine Formulierung des deutschen Kanzlers Theobald von Bethmann Hollweg am Vorabend des Ersten Weltkrieges), sind die unglückseligen Folgen unter Umständen viel schlimmer, als unsere primitive Phantasie es voraussehen würde.
    Der rechte Teil von Abbildung  5 - 2 stellt den Krieg in einen so wenig pessimistischen Zusammenhang, dass man ihn schon fast als optimistisch bezeichnen kann. War der Zweite Weltkrieg vielleicht nur ein einsamer Spitzenwert in einem Auf und Ab, das langfristig nach unten zeigte – war er also das letzte Aufbäumen in einem langen Prozess, durch den große Kriege allmählich in die Rumpelkammer der Geschichte wanderten? Auch diese Möglichkeit ist, wie wir noch genauer erfahren werden, nicht so träumerisch, wie sie sich anhört.
    In Wirklichkeit ist die langfristige Entwicklung der Kriege wahrscheinlich das Ergebnis mehrerer überlagerter Trends. Wir alle wissen, dass Gesetzmäßigkeiten in anderen komplizierten Abläufen, beispielsweise beim Wetter, aus mehreren Kurven zusammengesetzt sind: aus dem zyklischen Rhythmus der Jahreszeiten, den zufälligen Schwankungen von Tag zu Tag, dem langfristigen Trend der globalen Erwärmung. In diesem Kapitel sollen die Komponenten der langfristigen Trends benannt werden, denen Kriege zwischen Staaten unterliegen. Ich möchte überzeugend darlegen, dass diese Trends folgende Eigenschaften haben:
    Keine Zyklen.
Ein gerüttelt Maß an Zufälligkeit.
Eine – in jüngster Zeit rückgängig gemachte – Eskalation in der Zerstörungswirkung von Kriegen.
Ein Rückgang in allen anderen Dimensionen des Krieges und damit bei den zwischenstaatlichen Kriegen insgesamt.
    Demnach war das 20 . Jahrhundert kein stetiges Abgleiten ins Verderben. Im Gegenteil: Der anhaltende moralische Trend des Jahrhunderts war ein Humanismus, der Gewalt ablehnte und seinen Ursprung in der Aufklärung hatte. Dieser Trend wurde von gegenaufklärerischen Ideologien überschattet, die sich mit Waffen von immer größerer Zerstörungswirkung verbanden. Im Gefolge des Zweiten Weltkrieges gewann er aber wieder an Gewicht.
    Um zu diesen Schlussfolgerungen zu gelangen, werde ich die beiden Wege zur Erklärung der historischen Entwicklung verknüpfen: auf der einen Seite die Statistik eines Richardson und seiner Nachfolger, auf der anderen die Schilderungen der traditionellen Historiker und Politikwissenschaftler. Der statistische Ansatz ist notwendig, um Toynbees Fehler zu vermeiden: die allzu menschliche Neigung, in komplexen statistischen Phänomenen fälschlich umfassende Gesetzmäßigkeiten zu erkennen und diese voller Selbstvertrauen in die Zukunft fortzuschreiben. Aber wenn historische Berichte ohne Statistik blind sind, sind Statistiken ohne historische Berichte leer. Geschichte ist kein Bildschirmschoner, auf dem Gleichungen hübsche Kurven erzeugen; die Kurven sind vielmehr Abstraktionen tatsächlicher Ereignisse, zu denen die Entscheidungen von Menschen und die Wirkungen ihrer Waffen beigetragen haben. Wir müssen also auch erklären, wie die verschiedenen Treppen, Schrägen und Zackenmuster, die wir in den Graphiken erkennen, aus dem Verhalten von Politikern, Soldaten, Bajonetten und Bomben erwachsen. Im Verlauf des Kapitels werden sich die Zutaten der Mischung vom Statistischen auf den Bericht verlagern, aber keines von beiden ist entbehrlich, wenn man etwas so Komplexes wie die langfristige Entwicklung der Kriege verstehen will.

Die Statistik tödlicher Konflikte, Teil  2 : Größenordnung von Kriegen
    Bei seiner Analyse tödlicher Konflikte machte Richardson noch eine zweite wichtige Entdeckung. Sie kristallisierte sich heraus, als

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