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Gewalten

Gewalten

Titel: Gewalten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
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damit der es weiterleitet, der wüsste wohl Bescheid. Und als der dann mal bei mir war, der Wärter X, und ich ihm das Zeug geben wollte und sagte, das ist für den und den, da streckt mir die Drecksau doch tatsächlich die Hand hin, also richtig die offene Pfote, und fragt, rotzfrech fragt er das: ›Und was krieg ich dafür?‹ ... Und da war dieser Kalfaktor, der immer die große Schnauze hatte, wenn er Essen und Tee brachte, dem sollt ich den Arsch küssen, ihm dies und das geben, neben der Tür stehen mit Geschirr und Kanne, wenn er kam, da hab ich einmal auf dem Bett gelegen, und der steht in der Tür und quatscht mich blöd voll, bla dies und bla das, da hab ich die leere Kanne genommen und ihm schön mit Schwung in die Fresse gedonnert! ... Und die Kanaken? Ja, mit den Kanaken bin ich gut ausgekommen komischerweise, die waren in Ordnung, meistens.«
    »Adiós«, sagen sie in dem Sam-Peckinpah-Western
Pat Garrett & Billy the Kid
, wenn sie sich verabschieden und ahnen, dass sie sich nicht wiedersehen, und dehnen das O sehr lang, einige Sekunden fast, einen langen Atemzug lang, »Adiooooos«. Was bleibt dir manchmal mehr als Pathos?
    Und ich beuge mich über ihn, er scheint zu schlafen, der Kopf unruhig auf dem Kissen, Schweiß auf der Stirn, der Mund geöffnet, seine Zähne sind sehr weiß in diesem Augenblick, sagt mir meine Erinnerung, aber vielleicht ist
das der Kontrast zu seinem sehr gelben Gesicht. Und als würde er spüren, dass ich ihn anschaue, öffnet er die Augen, Morphium-Augen, ich weiß nicht, was er für Zeug im Blut hat, es wird automatisch zugeführt, er nuschelt singt krächzt etwas, »... geträumt ...«, und erst später begreife ich, dass er dachte, er hätte das alles nur geträumt, auch dass wir hier sind. »Nein«, sagt seine Schwester, »wir sind alle da.« Ich greife seine Hand, lege meine Handfläche, ich würde sagen »über Kreuz«, in seine, so wie wir uns früher begrüßten und verabschiedeten. Ich kann nichts Genaues sagen über die Temperatur und die Zeit, und als ich mich ein wenig seitlich zur Tür drehe, weil ich da rausmuss, weil ich meine, an den Seiten dieses V entlangrennen zu müssen, Hänge und Berge, und meine Handfläche über seine rutscht, da hält er meine Fingerspitzen fest mit seinen gekrümmten Fingern. Und ich gebe Gegendruck, spüre noch einmal sein
Leben
, sage: »Mach’s gut«, spüre seine klammernden Fingerspitzen, und dann reiße ich mich los.
    »Du hättest noch öfter kommen können«, ruft er mir hinterher, »ich habe noch fast zehn Tage gelebt danach. Zehn Tage!« Und da ist er wieder, sein Stolz, schreib eine Ode, Clemens, einen Hymnus, wenigstens ein Gedicht, aber ich bin nur müde. »Ich habe sogar noch Torte gegessen!«
    Und da schauen sie alle auf mich in dieser Kneipe, als ich an der Tür stehe, kleine Mädchen, aufgedunsene Männer, alte Frauen, denen die Köpfe zittern wie zu große Tulpen auf zu dünnem Stiel, ein Mann trägt ein zu knappes München-T-Shirt, das kann kaum die Hämatome auf seiner Haut verdecken, blutig ist’s auch noch aus seiner Nase, und da rufen sie alle in einem schrecklichen Chor, Luigi Nono, der Chorus der Verdammten, dass meine Kleidung zu knistern anfängt wegen der Gänse-Gänse-Gänse-Haut
darunter: »Ein Gedicht zum Abschied, Mister Meyer, ach, doch nur ein einziges kleines Gedicht!«
    Und da stelle ich mich wieder in Richtung Raum, hebe die Hände beschwichtigend, eine Spielkarte fällt aus meinem Ärmel, »nun denn, wenn ihr meint!«
    Und ich beginne, habe ja nur eins geschrieben, das ich im Kopf habe über die Jahre:
    »Memoiren eines Heimkinds«, beginne ich. Schweigendes Nicken, leises Grummeln, »hört, hört!«
    »Ich hab eine Hummel.
    Ich hab sie dressiert,
    und sie lockt greuliche Spinnen
    in die eigens dafür aufgestellten Fallen.
    Eine ganz prima Hummel hab ich!«
    Und als der Applaus losbricht, auch das kleine Mädchen klatscht in die Hände (war da nicht eben noch ein zweites kleines Mädchen neben ihr?), gehe ich. Ich muss mich nicht umdrehen, weiß, dass er winkt, weiß, dass er vielleicht nicht winkt, weiß, dass er mir immer noch etwas böse ist, weiß, dass er weiß, dass ich unsere Freundschaft nie vergessen habe, weiß, dass es keine Regeln gibt in den Momenten des Abschieds und des Sterbens. Ich laufe die Treppe runter. Es ist Vormittag, die Halle unter mir ist lichtdurchflutet, zu den Türen kommt es rein und durchs Glasdach. Beim Friseur ist viel Betrieb, Scheren, Hände,

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