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Gewalten

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Titel: Gewalten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
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später nachkommt, wie die Indianer sagen, das ist in den ersten Monaten meiner Reisen so gewesen, so dass ich nicht richtig bei mir war und ständig Unfug anstellte und zu viel trank, und da müsste doch, im Umkehrschluss, die Seele, wenn man krepiert ist ... aber eigentlich will ich nicht drüber nachdenken, sonst spüre ich, dass da vielleicht
nichts
ist, und alles nur esoterischer Scheiß, aber ich kann es doch, verdammt nochmal, sehen,
sehen
, dieses
sächsische Bergland, dieses V, an dessen Scheitelpunkt ich den idealen Standpunkt noch immer suche ...
    »Ganz einfach ist das«, sage ich und staple die abgegriffenen Karten vor mir auf dem Tresen, sehe dabei das Ass mit dem winzigen Riss im Papier, habe das nie angemerkt, während unserer letzten Pokerrunden, damit er es erkennt, der Sterbende, der Strebende, und vielleicht seinen Vorteil daraus zieht, »vielleicht hat dein Körper für all die Gifte in all den Jahren bezahlt, mehr habe ich nicht gemeint, als ich sagte: ›Du zahlst für deine Sünden nicht auf der Straße, sondern mit deinem Körper‹!«
    Und was ich nicht zusammenkriege, was kein Bild ergibt und keinen Sinn und keine Erklärung, hier nicht, und nicht im U und nicht im V, ist dieses zweiunddreißigjährige Gerippe und der Pitbull, der er vor zwei Jahren noch war, ein untersetzter, breiter Mann, gelernter Möbelpacker,
from the mean streets of east L.E., ladies and gentlemen,
aber haben die Würmer nicht schon eher angefangen zu fressen?, Alkohol, Drogen, Tod, und kein Weg raus aus diesem beschissenen Viertel.
    Eine Krankenschwester kommt rein, um ihn sauberzumachen, natürlich gibt es hier doch Krankenschwestern, auch wenn die Krankheit das Sterben ist, wir gehen raus auf die Terrasse, seine Schwester, seine Mutter und ich. Dort sitzen wir in der Sonne und rauchen, erzählen so dies und das. Alles ist hell und weiß und auch bunt an diesem Ort, die Pfleger und Schwestern reden sehr laut und immer mit bewusster Fröhlichkeit und Lockerheit, ich denke, wie das wohl wäre, hier zu liegen und zu warten, zu warten, dass dein Gehirn sich abschaltet, bis das System herunterfährt, vielleicht ganz leise, vielleicht mit einer donnernden Melodie, wie Windows 95 , 98 , XP , Exitus.
    »Wir haben uns zu wenig gesehen in den letzten Jahren«, sagt er, »bevor
das
mit mir passiert ist«, unsere Schnapsgläser sind wieder voll, es ist auch plötzlich wieder Betrieb in der Kneipe, ob die kleinen Mädchen da sind?, Gläser klirren, Stimmen, Trinkgefäße werden ausgespült hinter der Bar, Lachen, die üblichen Kneipengeräusche eben, was soll man mehr dazu sagen, New York, Leipzig, Lübben im Spreewald, immer die gleichen Geräusche und derselbe Geruch, nur der Tabakqualm fehlt seit wenigen Jahren, geraucht hat er bis zum Schluss (der Schriftsteller Wolfgang Hilbig, der vor Jahren und Jahre über diesen Bahnhof geisterte, und vielleicht sogar irgendwo hinter mir sitzt, hat kurz vor seinem Krebstod angefangen zu kiffen und gesagt, dass er Angst habe, abhängig zu werden), ich bin sehr müde jetzt, Lichtreflexe im Raum, an den Rändern meines Blickfelds, und weiß, dass es Zeit ist, zu gehen. Wir stoßen ein letztes Mal an, auf seinen Nachttisch habe ich eine kleine Flasche Cognac gestellt bei meinem einzigen Besuch, habe ich das schon erwähnt?, und wir wissen, wann wir uns abhandengekommen sind, 2005 , September, er fuhr in den Knast ein, für ein paar Wochen, hatte Geldstrafen nicht bezahlt. Am selben Tag fuhr ich nach Frankfurt am Main, der S. Fischer Verlag wollte mein Manuskript haben, ich bot BB an, mir Geld vorschießen zu lassen, damit er frei bleiben kann. Aber er wollte das nicht, da war wieder sein Stolz. Wir haben uns dann nur noch ein paar Mal gesehen, es muss ihm nicht gutgegangen sein
dort
, »Nie wieder«, hat er gesagt, »nie wieder in die Kiste«, so nannte er den Knast, den
Stein
, den Bau, den Kahn, Schiff ahoi! Unsere Parabeln haben sich entfernt voneinander im Koordinatensystem, die Macht der Mathematik, der Geometrie, was will man da machen, nicht wahr? Ein paar letzte, neue Geschichten
sind geblieben, nachdem viele seiner alten Geschichten irgendwo, und manchmal nur noch Fragmente davon, in diesem Manuskript stehen, das der S. Fischer Verlag damals haben und drucken wollte. »Einmal hat mir ein Typ aus einer anderen Zelle, aus einem anderen Block ein Päckchen gependelt, das ging von Fenster zu Fenster, von Gitter zu Gitter, bis es dann bei mir war, das sollte ich dem Wärter X geben,

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