Gewalten
Haare.
Straßenbahnen und Busse, die Haltestelle vorm Bahnhof voller Menschen, Tüten, Taschen, Hunde, Bettler, dicke Frauen, Mandy und Kevin, Taxis, so viele Taxis, junge Mädchen, die Zigaretten rauchen, Uniformierte von den Verkehrsbetrieben, Telefongespräche, Gesprächsstrahlungen, klappernde Münzen im Fahrkartenautomatenschacht. Eine Schande, so früh betrunken zu sein. Wir fahren, wohin
wir fahren. (Das ist von Jurek Becker, der letzte Satz aus
Jakob der Lügner
, so glaube ich zumindest, ein schöner Satz.)
Ich führe Selbstgespräche zwischen den vielen Menschen, das mache ich oft, bin ständig am Grummeln und Murmeln, Formeln, die mich durch die Koordinaten führen, wenn ich unterwegs bin: »Ja, so ist das eben« oder »Nun ja, was will man da schon machen« und »Ach, weißt du, die Dinge sind, wie die Dinge eben nun mal sind« oder »Nach all den Jahren« und »Wenn du mich fragst, weißt du, gar nicht so einfach das alles«.
Und dann fahren wir, wohin wir fahren. Und als dann, um die Dinge (die nun mal sind, wie die Dinge eben sind) zu forcieren, als dann in der Kapelle das Handy von Bukowski klingelt (der sieht nämlich so aus mit seinem grauschwarzen Vollbart, ist ein Freund von BB und auch von LB , der ja Bukowski-Fan ist, LB ist nicht gekommen, will allein Abschied nehmen, hat Angst, dass er durchdreht, wenn er da die Reste sieht), und was hat dieser Mensch für einen Klingelton, »Chemie-Schweine, Chemie-Schweine« dudelt da aus seinem Handy, da denke ich, und erwarte es fast, dass BB aus seinem Sarg steigt, denn er ist wie ich und wie LB ein
Chemiker
, um Bukowski anzuspringen wie ein Pitbull, aber dann sehe ich die kleine Urne zwischen all den Blumen. Lange laufen wir dann, der Karren mit den Blumen und der Urne vorneweg geschoben von Friedhofsmenschen, schmale Wege zwischen den Steinen, wieder und wieder kreuzen wir die Hauptstraßen dieser Stadt aus Stein und Bäumen ... ich will nicht wissen, wann wir da sind, um uns um das Loch zu formieren, Asche in die Tasche und Staub unterm Laub, und weit weg hinter den Bäumen im Mittagsdunst dieses Juli 2009 – Berge.
Der Fall M
Du sprichst also das Mädchen an. Kein Problem, du kennst es ja, hast ja ein Praktikum in ihrer Schule gemacht, im Schulhort. Hast du da schon alles geplant? Also, ich mein jetzt nicht im Schulhort, sondern in dem Augenblick, wo du beschließt, sie in deine, also deine Wohnung ist’s genau genommen nicht, also in die Wohnung, in der du wohnst, zu locken. Oder willst du warten, wie die Dinge sich entwickeln? Du hast dir oft einen runtergeholt, wenn du dran gedacht hast, und musstest mittendrin immer mal Pause machen und horchen, ob deine Mutter nicht vor deiner Zimmertür rumschleicht. Du hast oft gesehen, wie sie allein nach Hause gegangen ist. »Ich hab was für deine Mutti«, sagst du. »Deine Mutti hat gesagt, du sollst das bei mir abholen.« Und sie geht mit dir mit, du greifst nach ihrer Hand, lässt sie dann aber wieder los, weil du spürst, wie warm das ist. Du bist aufgeregt, ist nicht mehr weit, nur noch um die Ecke, keiner beachtet euch, du hältst den Kopf gesenkt und hoffst, dass du niemanden triffst, der dich kennt. Und du triffst keinen, auch nicht, als du schon mit ihr vor dem Haus stehst, in dem du mit deiner Mutter wohnst. Weißt du, dass meine Mutter schräg gegenüber
wohnte, dort, an der Endstelle der Bus-Linie, ich bin da aufgewachsen, weißt du, habe dort auch zusammen mit meiner Mutter gewohnt, na ja, meine Schwester war noch da, und das kann ich dir sagen, mit zwei Frauen unter einem Dach, das war manchmal die Hölle, und da wurde man nicht nur einmal beim Onanieren erwischt; fast zehn Jahre hab ich da gewohnt, bin mit einundzwanzig erst ausgezogen, ach, siehst du, du bist jetzt auch einundzwanzig, nein, Moment, neunzehn erst bist du, und nun ist’s zu spät, mit dem Ausziehen, also sagen wir hier lieber »dem Auszug«, aber weg von Muttern bist du inzwischen, jetzt, heute, August 2009 , aber ziemlich exakt ein Jahr zuvor, da wusstest du genau, dass sie nicht zu Hause ist. »Guten Tag, Mutti, darf ich dir meine neue Freundin vorstellen?« Nein, das geht nun doch nicht, mit den Mädchen hattest du’s nicht so, was? Ich in deinem Alter übrigens auch nicht. Als ich Kind war, habe ich mal zu meiner Mutter gesagt, dass ich, wenn ich groß bin, mit meinem Freund J. H., der damals mein bester Freund war, aber inzwischen leider tot, in einem Haus im Wald wohnen möchte. Ja, hat sie gesagt, das ist ganz
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