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Gewalten

Gewalten

Titel: Gewalten
Autoren: Clemens Meyer
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Wort
Schlitz
noch nie in meinem mittlerweile monogamsexuellen Leben verwendet, ein schönes Wort ist das, es erregt mich, während die Kugel klimpert und die Asiaten ihre Einsätze auf dem Tuch tanzen lassen oder sie einfach aufs Grün werfen und dem Croupier zurufen, wo er sie platzieren soll, eine brillantes Gedächtnis muss dieser grauhaarige Mann, den ich gerne zum Freund hätte und dem ich alles anvertrauen würde, haben, um sich all das zu merken und die Gewinne korrekt auszuzahlen. Denn inzwischen spielen wir nicht mehr zu fünft ( 4 Asiaten, 3 Männer, 1 Frau, und ich), unser Tisch wird jetzt dicht umlagert, immer mehr Chips klimpern aufs Grün, immer mehr Chiffren und Codes werden mündlich übermittelt, und der grauhaarige Mann mit der großen goldgerahmten Brille hat alles im Griff, souverän dreht er den Kessel und schnippt die Kugel hinein. Direkt neben ihm befindet sich, hochkant aufgestellt, eine schmale Digitalanzeige auf der untereinander die zuletzten gefallenen Zahlen blinken. Keine 21 , keine 9 . Die 9 will ich dann spielen, habe das Gefühl, dass sie kommen könnte, mehr so ein seltsames Ahnen ist das, ich trinke auch schon den dritten Whisky, will mich wie ein alter Spieler fühlen, und ja, ich ahne und fühle, dass die 9 nun kommen kann, kommen wird, aber entscheide mich im letzten Moment wieder für die 21 , und die Kugel klimpert,
nichts geht mehr
, und die 9 fällt.
    Und ich beginne langsam, die Geheimnisse zu verstehen, bewege mich im Labyrinth der Zahlen, weiß zwar nicht genau, wohin, aber ich bewege mich. Ich bin locker, versuche locker zu sein, habe noch ca. 120 Euro, das sind 24   5 -Euro-Chips. Die Spieler um mich herum sind nervös, führen Selbstgespräche, machen ruckartige Bewegungen, stoßen gegen mich, lachen kurz auf und rufen laut ihre Chiffren und Codes, »acht zwei zwei!«, »eindundzwanzig zwei zwei«, »acht Stücke auf die Waisenkinder!«
    »Die Waisenkinder«, flüstert mir ein Japaner ins Ohr, es klingt fast wie »Wiesenkinder«, sein Atem riecht so faulig, dass ich immer wieder an meinem Whisky nippe und mit meiner Zungenspitze etwas von dem Schnaps unter meinen Nasenlöchern verteile, »die Waisenkinder, les orphelins, das sind die 1 , die 20 , die 14 , die 31 , 9 , 17 , die 34 und die 6 .«
    Er zeigt auf den Bereich des Ovals, auf dem ORPH und um die Schrift herum, an den Rändern des Ovals, stehen tatsächlich diese 8 Zahlen. »Aber du spielst besser die kleine Serie.« Er zeigt auf SERIE
5 / 8
im Inneren des Ovals. »Das kostet dich 4 Stücke.« Er sagt
Stücke
, dieses Wort werde ich noch oft hören, vom Croupier, von den Wahnsinnigen, von meinem neuen japanischen Freund. Und ich lege 4 Stücke zu 5  Euro auf die kleine Serie. Der Japaner verschwindet sofort zu einem der anderen Roulettetische, als hätte er Angst, dass ich ihn für das mögliche Scheitern verantwortlich mache. Er läuft seltsam geduckt, schleicht durch den Raum und verschwindet zwischen den Spielern an den anderen Tischen. Er trägt einen Anzug. Leicht zerknittert, sieht aber teuer aus. Die kleine Serie, so begreife ich die Anordnung der Schrift und der Zahlen um sie herum, umfasst die 27 , die 13 , die 36 , 11 , 30 , 8 , 23 , 10 , 5 , 24 , 16 und die 33 . Und ich begreife immer mehr das Geheimnis der Zahlen im Kessel. Diese Zahlen liegen dort, wo die Kugel kreisen wird und jetzt auch surrend kreist, nebeneinander, meine kleine Serie deckt einen recht großen Teil des rotierenden Kessels ab. Ich dachte immer, die Zahlen liegen dort geordnet nebeneinander, von 0 bis 36 . Aber ihre tatsächliche Ordnung erschließt sich mir nicht. Zufall? Ein verstecktes System? Ich werde irgendwann herausfinden, welche Gewalten dieses Chaos verwalten.
    Und die Kugel hüpft und springt in ihrer erschlaffenden Dynamik, liegt auf der 5 . Rot.
    Ich habe etwas den Überblick verloren, weiß nicht, ob ich gewonnen habe, meine Blicke flimmern zwischen dem Kessel und dem Oval, wo meine 20  Euro immer noch liegen inmitten der anderen Plastikgelder, ein Mann im karierten Hemd, kein Asiat, die Verhältnisse zwischen Volksdeutschen und Exoten sind jetzt in etwa ausgeglichen an diesem Tisch, lacht leise und doch laut, weil direkt neben mir, lacht und ruft: »Ja, das hätte man doch wissen können!«, denn er hat’s scheinbar nicht gewusst und dreht sich um und läuft ein Stück in den Raum, kommt aber sofort wieder zurück, blickt in die Runde, sucht Blickkontakte, die Harke des Croupiers kämmt das Grün aus, mir fällt
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