Gewalten
Albanern hatte. Die toten Fliegen auf dem Fensterbrett werde ich nie vergessen.
Und jetzt stehe ich vor dem großen Reiterdenkmal auf dem Bahnhofsvorplatz »Dem Landesvater sein treues Volk.« Ein Paar Hannoveraner Bürger steht neben mir, ihre Hüte an die Brust gedrückt, schauen sie ergriffen zu Ernst August dem Ersten, dessen gewaltiger Schnauzbart Unheil verspricht, die Frau weint und jammert über die schlechten Zeiten und dass die Leine immer weniger Wasser führt, jetzt verstehe ich, warum es hier überall Fischbratereien gibt, wer braucht noch eine Angel, wenn die Lachse im Schlamm stecken, und ich laufe durch die kalte Innenstadt zu den Zierteichen, die im Krieg von Zwangsarbeitern angelegt wurden, auf dem Fundament dieser Knochen muss das große Casino sein, von dem mir mein Großvater erzählte.
Ich wollte nicht mit einem Rätsel beginnen. Aber das Casino an diesen Seen mitten in der Stadt gibt es nicht mehr. Und ich sitze in der Stadtbücherei und absolviere mein Programm, denn auch deswegen bin ich gekommen, und nicht nur wegen der Suche nach dem Familienglück. Vielleicht dreißig zahlende Gäste. Das ist nicht schlecht im November. Ein Mann, erfolgloser Dichter, erzählte mir vorhin das (und deklarierte es als einen Auszug aus seinem großen Gesang über die Stadt H): »Die großen Zeiten der Stadt Hannover sind vorbei seit der Wende. In den Achtzigern
war das Fleisch hier richtig teuer, und die Weiber trugen ihren Pelz offen zur Schau. Und im Casino klapperten jeden Abend die Roulettekugeln, während unter den Seen die Knochen klapperten und sich mit den Leichen in den Kellern vergnügten. Die Korruption und die Politik haben uns alle reich gemacht. Bald geht’s uns wie der Stadt M.« Da übertrieb er etwas, wie ich fand. Aber was ich finde, ist eine Spielbank, nur wenige Straßen von der Stadtbibliothek entfernt. Es ist spät geworden, 23 Uhr 30 , denn nach der Veranstaltung muss ich noch mit zwei Damen Bier trinken. Die beiden kommen aus dem Osten, eine aus der Stadt M, genau wie die junge Hure, die ich später treffe, als ich früh um drei noch ein Bier trinken will und nur die Nachtbars und Bordelle noch geöffnet sind.
Die beiden Damen fragen mich aus, und die Möglichkeit eines sexuellen Kontakts geistert kurz durch mein Hirn, allerdings nur durch eine Hälfte meines Hirns, denn die andere spielt synchron meine Möglichkeiten in der kleinen Spielbank durch, Roulette, Black Jack, ich bin schon dort gewesen vor meiner Veranstaltung und habe gefragt, ob ich eine Krawatte benötige, aber das sei nicht nötig, sagte man mir, und sexuelle Kontakte pflege ich zur Zeit ausschließlich mit meiner Frau, das muss auch die junge Hure feststellen, eigentlich benutze ich das Wort Hure nicht gern, obwohl sie selbst es benutzen, der Mensch sollte seine sexuellen Kontakte eh auf ein Minimum minimieren, denke ich manchmal, und die beiden Damen wollen nur mit mir reden, sexuelle Kontakte stehen gar nicht zur Disposition, eine Art
Null-Spiel
, eine der Damen schreibt auch, das erschreckt mich, denn ich selbst hasse es oft, Schreiben immer nur Schreiben, aber zum Glück zeigt sie mir keinen Auszug aus ihrem großen Gesang über die
Stadt H, und die junge Frau in der Nachtbar fragt mich, ob ich ihr einen ausgebe, und ich sage: »Selbstverständlich, was trinken Sie denn?«, aber nein, ich duze sie, im Bordell gibt es nur das
Du
, in ein paar Tagen fahre ich nach Kopenhagen, auch dort duzt man sich ausschließlich, das
Sie
steht gar nicht zur Disposition, das gefällt mir, »Du kannst dir eine unsere Damen zum Tanzen kommen lassen, direkt hier auf dem Tresen, du kannst mit einer unserer Damen gerne aufs Zimmer, du kannst natürlich einfach nur hier sitzen und etwas trinken«, und ich trinke ein Bier in dieser kleinen Nachtbar in Hannover, früh um drei, während es draußen so neblig ist, dass ich fast eine Stunde brauche, um mein Hotel zu finden. Die beiden sind Fans, haben mich schon mal in Leipzig angesprochen, daran kann ich mich nicht erinnern, es ist gut, dass man Fans hat, es ist gut, dass man mit seinen Fans, den weiblichen, einfach ein Bier trinken kann, ohne dass sexuelle Kontakte zur Disposition stehen und den Äther um uns vergiften, aber vielleicht gab es Zeiten, in denen man (wer ist
man
? ich? sie?) die Gifte liebte, ich will nicht mehr rauchen, ich will nicht mehr trinken, ich will nicht mehr begehren ... die beiden Damen sind recht hübsch, und ich erzähle ihnen von meinen Reisen und von meinem
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