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Gewalten

Gewalten

Titel: Gewalten
Autoren: Clemens Meyer
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es kein M, sondern der Schatten einer Fledermaus, ein Hilferuf, den der Polizist Gordon mit einem gewaltigen Scheinwerfer vom Dach eines Hochhauses in den Himmel über Gotham City schickt, wenn das Böse seine Stadt auffrisst. Der dunkle Ritter naht. Die vergessene Stadt. Wir fahren weiter, und auch die andere Hälfte meines Hirns beginnt zu träumen. Als ich aufwache, ist der Wagen voller Menschen. Wir sind wohl durch Braunschweig gekommen, die Pendler sind zugestiegen. Digitale Geräusche, Piepen, Summen, Lieder, Nährstoffe für den Krebs, denke ich. Mein Handy ist ausgeschaltet, ich hasse die Strahlungen in den Metallröhren der Züge. Die Krebsraten steigen von Jahr zu Jahr. Die Ärzte
können heute viel heilen und eindämmen, aber immer mehr E-Müll bohrt sich durch unsere Körper. In den Flugzeugen gibt es diese Strahlungen nicht, auch wenn sie inzwischen überlegen, die Handys auch im Himmel freizugeben. Aber noch haben sie Angst vor diesem Schritt, denn Al-Qaida experimentiert mit schluckbaren und kaum zu ortenden Minibomben, die per Handy im Körper gezündet werden können, beim Landeanflug auf John F. Kennedy, Charles de Gaulle oder Leipzig Schkeuditz. Die Metallkörper der Flugzeuge werden von kosmischen Strahlungen durchdrungen, viel stärker als die der Handys, vielleicht verursacht das vorzeitige Selbstzündungen dieser Minibomben, wenn die noch nicht mal im Darm angekommen sind, »Dir soll doch der Arsch platzen!«, sagte mein alter Schulhausmeister immer.
    Piepen, Summen, Lieder, und ich schließe mich auf der Zugtoilette ein, aber nirgendwo ist man sicher. Im Flugzeug war ich noch nie auf dem Klo, denn ich habe Angst, dass sich unter mir die Luke öffnet, wie früher, als man noch auf die Schienen schiss, und der Unterdruck mir die Därme raussaugt.
    Und endlich Hannover. Ich bin wieder erfüllt von Optimismus und Menschenliebe, denn auf dem Klo habe ich im
spiegel
gelesen, wie ein Mann in Portugal im Streit eine Frau tötete, aus Versehen, er hatte sie nur weggeschubst, als sie ihn angriff, und sie stürzte unglücklich auf den Hinterkopf. Der Mann war ein Schäfer und verschwand in die Wälder. Ich war immer noch sehr müde auf dem Klo und eine Hälfte meines Hirns träumte wieder. Bevor er in die Wälder ging, war er noch kurz im Gefängnis. Er wurde verurteilt, wenn ich die Augen öffne, sehe ich mich im Spiegel, über zehn Jahre lebte er in den Wäldern,
wurde von der Polizei gesucht, und nur einmal, vor Jahren, bevor das Unglück passierte, ist er einer Frau sehr nahe gekommen, hat sie umworben, wollte sie heiraten. Aber die Frau ist dann in eine große Stadt gegangen, weil die Dörfer vergessen und arm waren.
    Der Mann hat einen Hund, lebt mit dem zusammen, in Höhlen und Erdlöchern, Freunde bringen ihm Essen. Und dann wird er schließlich, zehn oder mehr Jahre später, geschnappt. Und sitzt wieder im Gefängnis und sorgt sich um seinen Hund, den sie wohl ins Tierheim gesteckt haben. Irgendeine unbekannte Dame bezahlt viel Geld für seine Anwälte. Keiner weiß, wer sie ist. Einer Zeitung sagt sie am Telefon: »Er ist kein schlechter Mensch. Er hat mich vor vielen Jahren einmal sehr geliebt.«
    Und erfüllt von Menschenliebe und allen möglichen warmen Gefühlen schwebe und tänzele ich mit meinem Gepäck durch den großen Bahnhof der Stadt Hannover. Zwischen den beiden Eingangshallen liegt der lange Gang mit den Treppen, die hoch zu den Bahnsteigen führen. Dazwischen Geschäfte, Fressbuden, Drogerien, Zeitungsläden. Und so viele Menschen, wie in keinem anderen Bahnhof Deutschlands. Der Bahnhof in Leipzig ist größer und schöner, der beste Bahnhof, den ich kenne, aber hier wimmeln sie durcheinander in einem Energiestrom aus Stimmen und Farben, hin und her zwischen den Hallen und Bahnsteigen, Reisende, Einkaufende, Verwirrte, Polizisten, Heimatlose, Terroristen, Punker, Dealer, Schaffner, Halbnackte, Hungrige, die an den Fressbuden stehen bleiben, Hungrige, die zu den Ausgängen eilen, Hannover City, Fleischmarkt, und Portal in alle Himmelsrichtungen, hier kreuzen sich Schienen und Straßen und Strahlungen, die Stadt liegt tief im Leine-Tal, und auch
ich gerate ins Rutschen. Irgendwann, vielleicht war das 2007 , kam ich hier durch, wollte eigentlich nur umsteigen, befand mich aber plötzlich in der Wohnung einer Hure, irgendwo am Rand der Stadt. Drei Stunden blieb ich bei dieser wunderbaren Frau. Eine Polin mit einem großen Muttermal auf dem Schulterblatt. Eine Polin, die Angst vor den
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