Gewaltfreie Kommunikation: Eine Sprache des Lebens (German Edition)
durch Einstimmung auf die möglichen Gefühle und Bedürfnisse. Wenn z.B. eine Tante die Geschichte, wie ihr Mann sie vor zwanzig Jahren mit zwei kleinen Kindern hat sitzenlassen, immer wieder erzählt, dann können wir sie so unterbrechen: „Ja, Tante, das klingt so, als fühlst du dich immer noch verletzt und wünschst dir, du wärst fairer behandelt worden.“ Die meisten Leute merken nicht, daß es häufig Empathie ist, was sie brauchen. Und sie realisieren auch nicht, daß sie leichter Einfühlung bekommen, wenn sie ihre lebendigen Gefühle und Bedürfnisse zum Ausdruck bringen, statt immer wieder die Geschichten von vergangener Ungerechtigkeit und Not aufzuwärmen.
Eine andere Möglichkeit, ein Gespräch wiederzuerwecken, besteht darin, unseren Wunsch nach mehr Verbindung offen auszusprechen und um Informationen zu bitten, die uns helfen können, diese Verbindung herzustellen. Auf einer Cocktailparty fand ich mich einmal mitten in einem üppigen Redeschwall wieder, den ich als scheintot empfand. „Entschuldigung“, unterbrach ich und wandte mich an die neun anderen Leute, die um mich herumstanden, „ich werde ungeduldig, weil ich gerne mehr Kontakt mit euch hätte, aber unser Gespräch führt nicht zu der Art von Kontakt, die ich gerne hätte. Ich würde gerne erfahren, ob unser Gespräch eure Bedürfnisse erfüllt, und wenn das so ist, um welche Bedürfnisse es sich handelt.“
Alle neun starrten mich an, als hätte ich eine Maus in die Bowle geworfen. Zum Glück erinnerte ich mich daran, auf ihre Gefühle und Bedürfnisse, die durch ihr Schweigen ausgedrückt wurden, einzugehen. „Ärgert ihr euch über die Unterbrechung, weil ihr gerne mit dem Gespräch weitergemacht hättet?“ fragte ich.
Nach weiterem Schweigen sagte schließlich einer der Männer: „Nein, ich ärgere mich nicht. Ich habe über deine Bitte nachgedacht. Nein, mir hat das Gespräch keine Freude gemacht; es hat mich, um ehrlich zu sein, total gelangweilt.“
Was für den Zuhörer langweilig ist, ist für den Sprecher genauso langweilig.
Damals hat mich diese Antwort überrascht, denn er hatte von allen am meisten geredet! Jetzt überrascht mich das nicht mehr, denn mittlerweile habe ich herausgefunden, daß Gespräche, die für den Zuhörer totgelaufen sind, im Sprecher genau das gleiche Gefühl auslösen.
Sie fragen sich vielleicht, wie man den Mut aufbringen soll, jemanden einfach mitten im Satz zu unterbrechen. Ich führte einmal eine inoffizielle Umfrage durch und stellte die folgende Frage: „Wenn Sie mehr sagen, als jemand hören möchte, ist es Ihnen dann lieber, daß die Person vorgibt zuzuhören oder daß sie Sie unterbricht?“ Die Auswertung ergab, daß alle, bis auf eine Person, lieber unterbrochen werden wollten. Diese Antworten ermutigten mich, weil sie mich überzeugten, daß es rücksichtsvoller ist, jemanden zu unterbrechen als vorzutäuschen, man würde zuhören. Jeder von uns möchte gerne, daß seine Worte für andere eine Bereicherung sind und keine Last.
Wer etwas sagt, wird von seinem Zuhörer ggf. lieber unterbrochen, als daß der vortäuscht, es würde ihn interessieren.
Empathie für Stille
Schweigen ist für viele von uns die größte Herausforderung an unser Einfühlungsvermögen. Das gilt besonders dann, wenn wir uns verletzlich gezeigt haben und wissen möchten, wie andere auf unsere Worte reagieren. In solchen Augenblicken ist die Gefahr groß, daß wir unsere schlimmsten Ängste in den Mangel an Resonanz hineinprojizieren und vergessen, uns mit den Gefühlen und Bedürfnissen zu verbinden, die durch das Schweigen zum Ausdruck kommen.
Ich arbeitete einmal mit den Mitarbeitern eines Unternehmens, sprach über etwas sehr Bewegendes und fing an zu weinen. Als ich hochschaute, reagierte der Geschäftsführer auf eine Weise, die schwer anzunehmen war für mich: mit Schweigen. Er wandte seinen Blick mit einem Gesichtsausdruck ab, den ich als Abscheu interpretierte. Zum Glück dachte ich daran, meine Aufmerksamkeit auf das zu richten, was in ihm vorgehen mochte, und sagte: „Durch Ihre Reaktion auf mein Weinen habe ich den Eindruck, daß Sie empört sind und als Trainer für Ihre Mitarbeiter lieber jemanden hätten, der seine Gefühle besser kontrollieren kann.“
Hätte er mit „ja“ geantwortet, dann wäre es mir möglich gewesen, unsere unterschiedlichen Wertvorstellungen zum Thema Gefühlsausdruck zu akzeptieren, ohne irgendwie zu denken, daß mit mir etwas nicht stimmt, weil ich meine
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