Gewitter über Emilienlund: Mittsommerglück (German Edition)
aus einer angesehenen Familie, doch das Unternehmen seines Vaters schrieb schon seit Langem nur noch rote Zahlen. Es war ein unausgesprochenes Geheimnis, dass alle Hoffnung auf ihm, dem einzigen Nachkommen der Familie ruhte: Montague Greyson O’Brannagh III.
Diese große Verantwortung hatte von Jugend an schwer auf seinen Schultern gelastet, doch Grey war entschlossen gewesen, sein Bestes zu tun, um die Erwartungen zu erfüllen, die an ihn gestellt wurden. Er lernte wie ein Besessener, mit Erfolg. Seine Noten waren überdurchschnittlich, seine Dozenten lobten ihn in den höchsten Tönen. Doch das alles war ihm im Grunde gleichgültig, er bildete sich nichts darauf ein. Er tat einfach, was er tun musste. Nicht mehr und nicht weniger.
Vielleicht war das der Grund dafür, dass die meisten seiner Kommilitonen ihn mochten. Er war nicht der Strebertyp, der auf seinem hohen Ross saß und auf die hinabblickte, die weniger strebsam oder talentiert waren als er selbst.
Und vielleicht war er Cardassian auch gerade deshalb ein solcher Dorn im Auge gewesen. Wie auch immer, Mark hatte jede sich bietende Gelegenheit genutzt, um ihm das Leben schwer zu machen. Aber am Ende waren all seine mühsam gesponnenen Intrigen umsonst gewesen. Grey hatte sein Studium mit Auszeichnung abgeschlossen, und es war ihm zudem gelungen, das marode Familienunternehmen zu retten. Heute war O’Brannagh Industries einer der fortschrittlichsten und angesehensten Automobilindustriezulieferer ganz Europas.
Jetzt aber war Mark zurückgekehrt. Und Grey war vom ersten Moment an klar gewesen, dass es sich hier keineswegs um einen Höflichkeitsbesuch unter alten Freunden handelte.
Er hatte sich nicht getäuscht. Als er Henrik von dem berichtete, was sein ehemaliger Studienkollege zu ihm gesagt hatte, wurde er blass. “Das ist nicht dein Ernst, Junge. Wie kann er davon Wind bekommen haben?” Er atmete scharf ein. “Doch nicht etwa … Martensen, dieser verdammte Spitzel?”
Grey seufzte. “Nun, die Vermutung liegt nahe, nicht wahr? Ich habe mir gleich gedacht, dass Martensen uns nicht aus eigenem Antrieb ausspioniert hat. Es musste jemand dahinterstecken, der wusste, dass er als mein persönlicher Assistent ohne Weiteres an vertrauliche Unterlagen gelangen konnte. Und wie es aussieht, kennen wir jetzt auch den Drahtzieher dieser Aktion.”
Henrik fluchte. “Du meinst, Cardassian hat ihn fürs Herumschnüffeln bezahlt? Dieser widerliche kleine … Aber warum? Was verspricht er sich davon?”
Ratlos zuckte Grey mit den Schultern. “Ich weiß es nicht. Geld vielleicht? Es könnte allerdings auch reine Missgunst sein. Du weißt, dass Cardassian schon immer versucht hat, mich auszubooten. Dies hier könnte seine große Chance sein. Wenn er es schafft, uns beim Bergström-Deal dazwischenzufunken …”
“Was hat er vor?”
“Zunächst einmal wird er sich wohl einen Spaß daraus machen, uns schwitzen zu sehen.” Er lachte bitter auf. “Aber ich zweifle nicht daran, dass er seine Informationen früher oder später an einen unserer Konkurrenten weitergeben wird – gegen eine kleine Aufwandsentschädigung, versteht sich.”
Nachdenklich neigte Henrik den Kopf. “Ich weiß, dir wird die Idee nicht gefallen, aber wenn wir versuchen, uns Cardassians Schweigen zu erkaufen? Das Geschäft steht noch auf ziemlich wackeligen Beinen. Bergström mag zwar das Gefühl haben, in der Schuld von O’Brannagh Industries zu stehen, doch wenn ihm jemand ein besseres Angebot macht, wird auch er nicht widerstehen können.”
Grey stöhnte. “Glaubst du wirklich, darauf wäre ich nicht auch schon gekommen?” Er raufte sich die Haare. “Wenn der Vertrag zum jetzigen Zeitpunkt platzt, wären die Folgen katastrophal! Wir haben zu viel Geld und Zeit in diesen Deal gesteckt, wir müssen es einfach schaffen, Bergström zu überzeugen.”
Tatsächlich würde Grey zunächst nichts anderes übrig bleiben, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Cardassian hatte ihn in der Hand. Grey war handlungsunfähig, solange er nicht wusste, was sein ehemaliger Kommilitone im Schilde führte. Und er würde seinen eigenen Anblick nicht mehr im Spiegel ertragen können, wenn durch seine Schuld die Existenzen seiner Mitarbeiter in Gefahr gerieten.
Die Ungewissheit zerrte an seinen Nerven, und das ging nicht spurlos an ihm vorüber. Er wusste, dass er sich seit einigen Tagen wie ein schlecht gelaunter Grizzlybär aufführte. Die Hausangestellten gingen ihm aus dem Weg, wo es nur ging.
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